gms | German Medical Science

26. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

11.09. - 13.09.2009, Leipzig

Phonemdiskrimination und Rechtschreibschwäche: Ist der Zusammenhang geschlechtsspezifisch?

Vortrag

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 26. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Leipzig, 11.-13.09.2009. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2009. Doc09dgppV41

doi: 10.3205/09dgpp58, urn:nbn:de:0183-09dgpp587

Published: September 7, 2009

© 2009 Stuhrmann et al.
This is an Open Access article distributed under the terms of the Creative Commons Attribution License (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.en). You are free: to Share – to copy, distribute and transmit the work, provided the original author and source are credited.


Zusammenfassung

Bei Patienten mit Verdacht auf AVWS und LRS überwiegen im Geschlechterverhältnis die Jungen. In der Studie wird der Frage nachgegangen, ob sich bei Jungen andere Zusammenhänge zwischen Rechtschreibung und Phonemdiskrimination zeigen als bei Mädchen. Hierzu wurden die Untersuchungsergebnisse des Heidelberger Lautdifferenzierungstests (HLAD), der Rechtschreibtests und Intelligenztests von 253 Kindern im Alter von 7 bis 13 Jahren retrospektiv analysiert. Es zeigten sich für die Gesamtgruppe der Kinder hochsignifikante Korrelationen zwischen Rechtschreibleistungen und dem HLAD, unabhängig von der Intelligenz. In den Testwerten des HLADs fanden sich keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern, dennoch fiel die Korrelation von HLAD und Rechtschreibung für die Jungen signifikant höher aus als für die Mädchen. Die Ergebnisse lassen die Schlussfolgerung zu, dass Mädchen ihre Schwächen in der Sprachverarbeitung möglicherweise besser kompensieren können und andere Strategien für die Rechtschreibung einsetzen als Jungen.


Text

Einleitung

Die Fähigkeit zwischen verschiedenen Sprachlauten zu unterscheiden besitzen schon Säuglinge. Kinder, die mit dem erblichen Risiko einer Legasthenie behaftet sind, zeigen allerdings schon im Säuglingsalter Schwächen der Lautdiskrimination. In neuropsychologischen Untersuchungen wurde deutlich, dass Kinder von legasthenen Eltern im Unterschied zur Kontrollgruppe z.B. keine kortikalen Antworten auf den Stimulus /bak/ /dak/ aufwiesen [1]. Ein Zusammenhang zwischen Lese-Rechtschreibschwäche und Lautdiskriminationsschwäche konnte für Schulkinder mehrfach nachgewiesen werden. [2], [3].

Nicht geklärt bleibt bis jetzt die Frage, ob der Zusammenhang von Lautdiskrimination und Rechtschreibfähigkeit ein geschlechtsspezifisches Phänomen darstellt. Von Sprachentwicklungsstörungen sind Jungen häufiger betroffen als Mädchen, in der Regel in einem Verhältnis 3:1. Möhring et al. [3] und Schulte-Körne et al. [4] wiesen auch geringere Rechtschreibleistungen bei Jungen im Vergleich zu Mädchen nach. Wright-Guerin et al. [5] wiederum fanden keine geschlechtspezifischen Einflüsse im Schweregrad einer Legasthenie. Sie sehen die häufigeren Rechtschreibprobleme bei Jungen eher als Folge von geringer Lernmotivation und ungünstigem Lernverhalten. Alternativ zu dieser Erklärung wäre die Hypothese, dass für Jungen andere kognitive und wahrnehmungspsychologische Einflüsse eine Rolle spielen als für die Mädchen, beispielsweise dass die Phonemdiskrimination als Ausdruck einer Sprachverarbeitungsschwäche bei den Jungen einen größeren Einfluss auf die Rechtschreibung ausübt.

In dieser Studie wird somit der Frage nachgegangen, ob der Zusammenhang von Lautdiskrimination und Rechtschreibung geschlechtspezifisch ist.

Untersuchungsgang/Methodik

Die Daten von insgesamt 253 Patientenakten, die die Ambulanzsprechstunde der Phoniatrie und Pädaudiologie der HNO-Universitätsklinik zur Abklärung einer auditiven Wahrnehmungs- und Rechtschreibstörung aufsuchten, wurden retrospektiv analysiert. Ein Ausschlusskriterium für die Aufnahme in den Datenpool war ein auffälliges Tonaudiogramm mit einer Hörminderung von mehr als 15 dB beidseits über mindestens vier Frequenzen hinweg.

Die Leistung der Phonemdiskrimination wurde geprüft mit dem Heidelberger Lautdifferenzierungstest HLAD. Der Test ist in drei Teile untergliedert:

  • Teil 1a) prüft die Lautdifferenzierung als auditive Vergleichsleistung von Minimalpaaren (Wörter und Pseudowörter), die sich nur in einem Konsonanten unterscheiden.
  • In Teil 1b) wird diesbezüglich die Nachsprechleistung geprüft.
  • In Teil 2, der Analyse von Wörtern mit Konsonantenhäufung, sollen die ersten beiden Laute benannt werden. Hier dienen als Prüfmaterial diejenigen Wörter aus Teil 1 a) welche Konsonantencluster mit Plosivlaut als Initiallaut enthalten, wie zum Beispiel das Wort „kriechen“.
  • In das HLAD Gesamttestergebnis geht die Summe der drei Untertests ein.

Der Test liegt auf Tonträger -mit Sprachaufzeichnung in einem Tonstudio- vor und wird computergesteuert ausgewertet.

Die Rechtschreibleistung wurde altersabhängig mit dem für die jeweilige Klassenstufe standardisierten Rechtschreibtest DRT 1 bis 5, RST 1 und WRT 6 geprüft. Zur Prüfung der sprachfreien Intelligenz kamen der CFT1 sowie der CFT 20 R zum Einsatz. Der auditive Arbeitsspeicher wurde mit dem Untertest „Zahlennachsprechen“ aus der Kaufmann Assessment Battery for Children, die Leseleistung mit der Würzburger Leise-Lese-Probe (WLLP) erfasst.

Ergebnisse

1. Verteilung von Geschlecht, Alter, IQ und Leistungen des auditiven Arbeitsspeichers

Die Verteilung der Geschlechter lag bei 143 Jungen zu 110 Mädchen. Es wurden somit mehr Jungen zur Abklärung einer Legasthenie und/oder Wahrnehmungsstörung in dem Zeitraum untersucht. Der mittlere sprachfreie IQ lag in der Gesamtgruppe leicht über dem Durchschnitt bei 106,7 (Mädchen: 105; Jungen 108; der Unterschied ist nicht signifikant (Z=–1,127, p=.203)). Der mittlere Prozentrang (PR) des Zahlenfolgegedächtnis lag – verglichen mit der Norm – im unteren Drittel bei PR=27,3 (Mädchen: 29,5; Jungen: 26,7; der Unterschied ist nicht signifikant (Z=–0,976, p=.329)). Das mittlere Alter betrug 8;7 Jahre (Mädchen: 8;6, Jungen: 8;8). Der Unterschied ist ebenfalls nicht signifikant (Z=–1,125, p=.260). Insofern sind die Gruppen hinsichtlich Alter, IQ und Zahlenfolgegedächtnis vergleichbar.

2. Leistungsvergleich der Mädchen und Jungen

Die Jungen und Mädchen unterschieden nicht in den Mittelwerten des Heidelberger Lautdifferenzierungstests. Weder im Gesamtwert noch in einem der Untertests zeigte sich eine signifikante Diskrepanz zwischen den Diskriminationsleistungen der Geschlechter Die Rechtschreibleistungen der Jungen waren jedoch schlechter als die Leistungen der Mädchen (Z=1,723, p=.085, Tendenz zur Signifikanz).

Verglichen mit den Normwerten zeigten beide Geschlechter Leistungswerte, die im unteren Drittel liegen. Dies gilt sowohl für die Lautdiskrimination als auch für die Rechtschreibleistungen.

3. Zusammenhang von Rechtschreibung und Lautdiskrimination im HLAD, unterschieden nach Geschlecht

Der Zusammenhang von Lautdiskrimination und Rechtschreibung wies höhere Korrelationen für die Stichprobe der Jungen auf im Unterschied zur Stichprobe der Mädchen (Tabelle 1 [Tab. 1]). Besonders deutlich wird dies für den Untertest: HLAD-Nachsprechen und für den Untertest: HLAD-Anlautanalyse. Hier zeigte sich, dass der Zusammenhang zwischen der Rechtschreibung und diesen HLAD-Untertests bei Jungen signifikant stärker ausgeprägt ist als bei Mädchen (Z=1,87, p=.03 für HLAD-Nachsprechen und Z=1,95, p=.03 für den Untertest: HLAD-Anlautanalyse).

Hinsichtlich der Leseleistung zeigte sich keine signifikante Korrelation zu den Untertests des HLAD. Das gilt sowohl für die Mädchen als auch für die Jungen unserer Stichprobe. Die Korrelationen erreichen als Höchstwert r=.177 und sind somit vernachlässigenswert.

Diskussion

Die Kinder dieser klinischen Stichprobe, die zur Abklärung einer AVWS und Rechtschreibstörung die phoniatrische Ambulanz aufsuchten, zeigten im Durchschnitt geringe Leistungen in der Phonemdiskrimination (unteres Drittel im HLAD) und ebenfalls niedrige Werte im Rechtschreibtest. Die Rechtschreibleistungen der Jungen lagen deutlich unter denen der Mädchen. Diese Befunde decken sich mit den Studien, die ebenfalls einen geschlechtsspezifischen Effekt von Sprachstörungen und Rechtschreibstörungen belegten [3], [4]. Interessanterweise war jedoch die Phonemdiskrimination der Jungen nicht schlechter als die der Mädchen, so dass diese Sprachverarbeitungsvariable nicht der Geschlechtsspezifität unterliegt. Ein ähnliches Ergebnis hinsichtlich der Lautdifferenzierung konnte auch Ptok [6] für das Vorschulalter bestätigen. Auch ein weiterer Aspekt, der Rückschlüsse auf Sprachverarbeitungsdefizite gibt, nämlich der auditive Arbeitsspeicher (Zahlenfolgegedächtnis) brachte keine Leistungsunterschiede zwischen Jungen und Mädchen.

Die weitere Analyse der Daten zeigte jedoch einen geschlechtsspezifischen Zusammenhang von Lautdiskrimination und Rechtschreibung: Die Rechtschreibung korrelierte bei den Jungen deutlich höher mit verschiedenen Teilaspekten des HLAD als bei den Mädchen. Dies zeigte sich besonders bei der Nachsprechleistung.

Wenn der 2. Untertest vom HLAD, das Nachsprechen von Minimalpaaren, unterdurchschnittlich ausfällt, so wird dem Kind auch das innere Mitsprechen von komplexen Lautfolgen schwer fallen. Es verfügt somit über eine mindere Fähigkeit zur Selbstkontrolle während des Diktate Schreibens. Auch Ptok [7] fand signifikante Zusammenhänge zwischen dem Nachsprechen von Kunstwörtern und der Rechtschreibleistung. Und speziell für die Anfangszeit des Schriftspracherwerbs, wenn sich die Kinder noch in der Phase der alphabetischen Strategie befinden, ist das innere Mitsprechen von Bedeutung, da hier noch nicht genügend Wortbilder als Ganzes abgespeichert sind. Schreib- und Grammatikregeln sind in den ersten Klassen noch weitestgehend unbekannt, somit werden die Worte bei fehlerhafter auditiver Diskrimination oder innerer Artikulation fehlerhaft auf das Schriftbild übertragen

Dass sich bei den Mädchen unserer Stichprobe, die ein ähnliches Leistungsdefizit der Lautdiskrimination aufwiesen wie die Jungen, ein deutlich niedrigerer Zusammenhang zwischen HLAD und Rechtschreibung zeigte, könnte darauf hinweisen, dass die Mädchen ihre Sprachverarbeitungsschwächen besser kompensieren können. Möglicherweise setzten sie mehr Fleiß und Ehrgeiz darin, die Wörter korrekt zu schreiben und greifen hier auf andere Strategien zurück, z.B. auf das visuelle Gedächtnis. Hier wäre interessant zu erfahren, ob sie über ein besseres visuell-räumliches und/oder visuell-serielles Gedächtnis verfügen. Niedrigere sprachfreie Grundintelligenz als Unterscheidungsmerkmal konnte ausgeschlossen werden, der sprachfreie IQ unterschied sich nicht signifikant.

Da uns bis dato keine Studien zu geschlechtsspezifischen Korrelationsmustern zwischen Phonemdiskrimination und Rechtschreibung vorliegen, sind diese Ergebnisse mit Vorsicht zu interpretieren und als vorläufig zu bewerten.


Literatur

1.
Leeuwen van T, Been P, van Heerte M, Zwarts F, Maassen B, van der Leij A. Cortical categorization failure in 2-month-old infants at risk for dyslexia. Neuroreport. 2007;8:856-61.
2.
Brunner M, Bäumer C, Dockter S, Feldhusen F, Plinkert P, Pröschel U. Phoneme Discrimination Test (HLAD) Normative Data for Children of the Third Grade and Correlation with Spelling Ability. Folia Phoniatr. 2008;60:157-61.
3.
Möhring L, Schöler H, Brunner M, Pröschel U. Zur Diagnostik struktureller Defizite bei LRS in der klinischen Arbeit: Beziehung zwischen verschiedenen Leistungsindikatoren. Laryngorhinootologie. 2003;82:83-92.
4.
Schulte-Körne G, Warnke A, Remschmidt H. Zur Genetik der Lese- Rechtschreibschwäche. Z Kinder Jugendpsychiatr Psychother. 2006;34:415-44.
5.
Wright Guerin D, Griffin JW, Gottfired AN, Chrstenson GN. Dyslexic Subtypes and Severity Levels: Are There Gender Differences? Optom Vis Sci. 1993;70:348-51.
6.
Ptok M, Lixchte C, Buller N, Wink T, Kuske S, Naumann CL. Ist die Lautdiskriminationsfähigkeit geschlechtsabhängig? Laryngorhinootologie. 2004;84:20-3.
7.
Ptok M, Meisen R. Die Fähigkeit Minimalpaare nachzusprechen korreliert mit der Rechtschriebleistung. HNO. 2008;56:73-80.