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27. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

17.09. - 19.09.2010, Aachen

Steigerung der Lebensqualität bei Aphasie durch die Förderung narrativer Kompetenzen

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  • corresponding author Sabine Corsten - Fachbereich Gesundheit & Pflege Katholische Fachhochschule Mainz, Deutschland
  • author Friedericke Hardering - RWTH Aachen, Deutschland
  • author Annerose Keilmann - Hals-, Nasen, Ohrenklinik und Poliklinik, Schwerpunkt Kommunikationsstörungen Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 27. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Aachen, 17.-19.09.2010. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2010. Doc10dgppP23

doi: 10.3205/10dgpp73, urn:nbn:de:0183-10dgpp737

Published: August 31, 2010

© 2010 Corsten et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Menschen mit Aphasie erleben ein verändertes Identitätsgefühl, häufig einhergehend mit verminderter sozialer Teilhabe und somit eingeschränkter Lebensqualität. Als elementar für eine gelingende Identitätsbildung sind biographisch-narrative Kompetenzen zu sehen. Sie bilden die Grundlage für die Selbstthematisierung in Form von Erzählungen im intersubjektiven Austausch [4]. Bei Menschen mit Aphasie sind sie durch die Sprachstörung eingeschränkt.

Material und Methoden: Die Konzepte zur Biographiearbeit aus der Medizin sowie den Sozial- und Kulturwissenschaften werden in Form multimodaler Aktivierungsansätze für Menschen mit Aphasie fruchtbar gemacht (vgl. [8]). Sowohl in Einzelgesprächen als auch in Kommunikationsgruppen werden Methoden wie das biographisch-narrative Interview oder das „narrative picturing“ eingesetzt. Ein erster Pilotversuch wurde in einer Aphasie-Selbsthilfegruppe mit 7 Betroffenen und 5 Angehörigen durchgeführt.

Ergebnisse: Erste qualitative Belege für die Wirksamkeit von Identitätsarbeit in Gruppen lassen sich ableiten. Alle Gruppenmitglieder berichteten von sich bezüglich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einem spezifischen Thema. Die Teilnehmer gaben an, sich gegenseitig dadurch anders zu sehen. Auch beschrieben sie, die eigene Identität durch den intersubjektiven Austausch anders zu erleben.

Diskussion: Offenbar bietet die Gruppe einen geeigneten Rahmen für Identitätsarbeit. Eine systematische Evaluation der Methoden in einem entsprechenden Studiendesign ist unabdingbar. Überdies muss geklärt werden, wie das Vorgehen in die logopädische Therapie integriert werden kann.


Text

Hintergrund

In der Forschung zu erworbenen neurologisch bedingten Sprachstörungen (Aphasien) und ihrer Rehabilitation zeigt sich gegenwärtig im Sinne der Internationalen Klassifikation von Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF; [9]) eine Abkehr von rein störungsspezifisch ausgerichteten Ansätzen hin zu einem sozial-pragmatischen Vorgehen. Somit werden über die sprachlichen Defizite hinaus die mit den massiven Kommunikationsproblemen einhergehenden Einbußen in sozialer Teilhabe und emotionalem Wohlbefinden fokussiert (z.B. [5]).

Das neue Rehabilitationsverständnis führt zu einer lebensqualitätsorientierten Ausrichtung der therapeutischen Intervention. Im mehrdimensionalen Konstrukt der Lebensqualität, welches u.a. soziale und psychische Dimensionen berücksichtigt, wird die Relevanz des emotionalen Wohlbefindens herausgestellt [6]. Dieses wiederum geht eng einher mit Selbstkonzepten und Identitätsmodellen. Solche Selbstkonzepte entwickeln sich im kommunikativen Austausch mit anderen und bedürfen narrativer Kompetenzen, welche in Form von Selbsterzählungen das Generieren der eigenen Identität über die Zeit ermöglichen. Die im Modus der Erzählung sich entwickelnde biographische Selbstthematisierung wird als narrative Identität bezeichnet (z.B. [3], [4]). Biographisch-narrative Kompetenzen sind also als zentral für gelingende Identitätsarbeit und als elementar für die Lebensqualität zu sehen. Bei Menschen mit Aphasie sind sie aufgrund der Sprachstörung eingeschränkt. Shadden [8] beschreibt Aphasie dementsprechend auch als „identity theft“ (Identitätsraub), da die Identität nicht kommuniziert werden kann. Die sozial-kommunikativen Einschränkungen führen zu einem veränderten Identitätsgefühl und wiederum zu verstärkter sozialer Isolation und eingeschränkter Lebensqualität.

Insbesondere in der Medizin und der Psychologie wurden narrative Therapien entwickelt, welche eine Rekonstruktion der eigenen Lebensgeschichte anregen. Mittels beispielsweise narrativer Interviews [7] sollen Krankheitsbewältigung aber auch ein Besinnen auf Ressourcen über die Krankheit hinaus erreicht werden. In der Aphasierehabilitation hat die Biographiearbeit jedoch bislang keine systemische Berücksichtigung gefunden. Narrative Interviews, auch mit in der Sprachproduktion schwer beeinträchtigten Betroffenen, wurden lediglich diagnostisch durchgeführt, wobei sich bereits eine heilsame Tendenz andeutete [2]. Insbesondere in der Gruppenarbeit werden im angloamerikanischen Raum biographisch-narrative Ansätze mit positiver Wirkung auf Selbstbild und Partizipation eingesetzt (z.B. [1]). Hierzulande findet sich meist eine Vermischung sprachspezifischer und psychosozialer Inhalte innerhalb der Gruppenarbeit.

Material und Methoden

In dem Projekt sollen multimodale Stimulationsansätze entwickelt und evaluiert werden, die spezifisch bei Menschen mit Aphasie narrative Kompetenzen fördern. Sowohl in Einzelgesprächen als auch in Gruppen werden modifizierte Formen biographisch-narrativer Kommunikation eingesetzt. Angelehnt an das narrative Interview sollen die Betroffenen in einem offenen Einzelgespräch unterstützt durch Erzählaufforderungen ihr Leben in Form einer Geschichte erzählen. In der Gruppenarbeit, die verstärkt den intersubjektiven Aushandlungsprozess anregt, sollen Lebensereignisse zu bestimmten Themen ausgetauscht werden. In beiden Arbeitsformen werden Instrumente wie das narrative picturing (Bildunterstützung) zur Unterstützung eingesetzt. Die Methoden sollen in einem intensiven Aktivierungstraining erprobt und quantitativ (z.B. mit Fragebögen) wie qualitativ (z.B. mit Stimmungs- und Aktivitätentagebüchern) hinsichtlich ihrer Auswirkung auf das emotionale Wohlbefinden und die soziale Teilhabe untersucht werden.

In einer ersten Pilotuntersuchung mit einer Aphasie-Selbsthilfegruppe mit 7 Betroffenen und 5 Angehörigen wurde eine themenbasierte biographisch-narrative, bildunterstützte Kommunikation erprobt. Die Gruppenmitglieder sollten reihum beispielsweise von jeweils emotional relevanten Urlaubsreisen und zukünftigen Plänen berichten.

Ergebnisse

Zunächst ist festzustellen, dass sich alle Gruppenmitglieder, auch Betroffene mit schweren Beeinträchtigungen in der Sprachproduktion, zum Thema über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hinweg äußerten. Nach der Sitzung berichteten die Teilnehmer, sie hätten die jeweils anderen Gruppenmitglieder nun erstmalig als Person unabhängig von der Aphasie kennengelernt. Zudem hätten sie bei sich selber durch die Erzählungen neue Kompetenzen erkannt.

Diskussion

Aus dem Pilotversuch können erste Hinweise auf das Gelingen von Identitätsarbeit in Gruppen abgeleitet werden. Offenbar bietet die Gruppe einen sicheren Raum, in dem die Sprachstörung nicht als Alleinstellungsmerkmal wirkt, so dass alle Betroffenen den Mut finden sich zu beteiligen. Das Neuerzählen eines Lebensereignisses hat offenbar erste Auswirkungen auf das Selbstkonzept der einzelnen Teilnehmer gezeigt.

Somit ist eine systematische Evaluation der Methoden angezeigt. Es muss geklärt werden, welche Kriterien Betroffene für eine erfolgreiche Teilnahme erfüllen sollten. Hinsichtlich der Gruppenarbeit muss die optimale Gruppenzusammensetzung untersucht werden. Weiterhin sollte evaluiert werden, welche Themenkomplexe und welche Hilfestellungen sinnvoll sind. Überdies muss geklärt werden, in welcher Form Biographiearbeit Eingang in die logopädische Therapie finden kann.


Literatur

1.
Hartke RJ, King RB, Denby F. The use of Writing Groups to Facilitate Adaption After Stroke. Top Stroke Rehabil. 2007;14(1):26-37. DOI: 10.1310/tsr1401-26 External link
2.
Holland AL. Living Successfully with Aphasia: Three Variations on the Theme. Top Stroke Rehabil. 2006;13(1):44-51. DOI: 10.1310/13D7-R31R-8A0D-Y74G External link
3.
Kraus W. Das narrative Selbst und die Virulenz des Nicht-Erzählten. In: Joisten K, editor. Narrative Ethik: Das Gute und das Böse erzählen. Berlin: Akademie Verlag; 2007.
4.
Lucius-Hoene G. Konstruktion und Rekonstruktion narrativer Identität. Forum Qualitative Sozialforschung [OnlineJournal]. 2000;1(2). Verfügbar über: http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/1087 External link
5.
Michallet B, Tetreault S, Le Dorze G. The consequences of severe aphasia on the spouses of aphasic people: a description of the adaption process. Aphasiology. 2003;17:835-59. DOI: 10.1080/02687030344000238 External link
6.
Schalock R, Verdugo M. The concept of quality of life in human services: A handbook for human service practitioners. Washington, DC: American Association on Mental Retardation; 2002.
7.
Schütze F. Zur linguistischen und soziologischen Analyse von Erzählungen. In: Internationales Jahrbuch für Wissens- und Religionssoziologie, Band 10. Opladen: Westdeutscher Verlag. 1976. p. 7-41.
8.
Shadden BB. Aphasia as identify theft: Theory and practice. Aphasiology. 2005;19(3–5):211–23. DOI: 10.1080/02687930444000697 External link
9.
WHO. ICF – International Classification of Functioning, Disability and Health. World Health Organisation. 2001. Verfügbar unter: http://www.who.int/icf External link