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28. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.
2. Dreiländertagung D-A-CH

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.
Schweizerische Gesellschaft für Phoniatrie; Sektion Phoniatrie der Österreichischen Gesellschaft für HNO-Heilkunde, Kopf- und Halschirurgie

09.09. - 11.09.2011, Zürich, Schweiz

Umfassende molekulargenetische Diagnostik für angeborene Hörstörungen auf Basis neuer Sequenziertechniken

Vortrag

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 28. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP), 2. Dreiländertagung D-A-CH. Zürich, 09.-11.09.2011. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2011. Doc11dgppV36

doi: 10.3205/11dgpp49, urn:nbn:de:0183-11dgpp493

Published: August 18, 2011

© 2011 Bolz et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Etwa 2/3 der angeborenen Hörstörungen (im Folgenden synonym „Taubheit“) sind genetisch bedingt. Aufgrund der genetischen Heterogenität (>50 bekannte Gene) war eine umfassende molekulare Diagnostik bislang finanziell und zeitlich nicht leistbar. Diese ist aber wichtig, u.a. um zwischen isolierter und syndromaler Taubheit (mit z.T. schweren Komplikationen wie plötzlichem Herztod beim Jervell und Lange-Nielsen-Syndrom) zu unterscheiden. Durch neue Sequenziermethoden (next-generation sequencing, NGS) ist es nun prinzipiell möglich, alle bekannten Taubheitsgene bei einem Patienten simultan zu untersuchen.

Material und Methoden: Ein Patientenkollektiv (u.a. mit Usher-Syndrom, Taubheit mit kardialer Beteiligung wie SANDD-Syndrom, autosomal-dominante und -rezessive Taubheit) wurde durch spezifische Anreicherung der bekannten Taubheitsgene und NGS (454-Technologie, Roche) analysiert. Die Ergebnisse wurden mit Hersteller- und „third party“-Software ausgewertet.

Ergebnisse: Die Hochdurchsatzsequenzierung ermöglichte den Nachweis von Mutationen auch in extrem selten ursächlichen Taubheitsgenen. Die Diagnosesicherung gelang etwa beim Usher-Syndrom auch bei klinisch atypischen Fällen durch den Nachweis von Mutationen in „unerwarteten“ Genen (exemplarische Vorstellung verschiedener Patienten).

Diskussion: Wir haben die simultane Hochdurchsatzsequenzierung (NGS) aller bekannten Taubheitsgene etabliert. Damit ist die umfassende genetische Abklärung von Hörstörungen als Routinediagnostik erstmals möglich. Auch seltene Ursachen wie digenisch vererbte Formen sind so detektierbar. Umfassende Sequenzdaten sind durch die neue Technologien immer leichter zu generieren. Die Herausforderung besteht, insbesondere mit dem zunehmenden Einsatz genomweiter Sequenzierungen, vor allem in der Interpretation der Daten: hierfür werden verschiedene Strategien aufgezeigt.


Text

Einleitung und Hintergrund

Etwa 2/3 der angeborenen Hörstörungen (im Folgenden synonym auch unter „Taubheit“ zusammengefasst) sind genetisch bedingt. Aufgrund der genetischen Heterogenität (mehr als 50 bekannte Gene; http://hereditaryhearingloss.org/) war eine umfassende molekulare Diagnostik bislang finanziell und zeitlich nicht leistbar. Diese ist aber wichtig, u.a. um zwischen isolierter und syndromaler Taubheit (mit z.T. schweren Komplikationen wie plötzlichem Herztod beim Jervell und Lange-Nielsen-Syndrom) zu unterscheiden. Durch neue Sequenziermethoden (next-generation sequencing, NGS) ist es nun prinzipiell möglich, alle bekannten Taubheitsgene bei einem Patienten simultan zu untersuchen.

Material

Es wurde ein Kollektiv von Patienten u.a. mit Usher-Syndrom, Taubheit mit kardialer Beteiligung wie SANDD-Syndrom, sowie autosomal-dominant und -rezessiv vererbter Taubheit analysiert.

Methode

Die DNA-Proben wurden durch spezifische Anreicherung der bekannten Taubheitsgene und NGS (454-Technologie, Roche) analysiert. Die Ergebnisse wurden mit Hersteller- und „third party“-Software (z.B. Roche GS Reference Mapper Version 2.5.3 und CLCbio) ausgewertet. Verschiedene Verfahren für die Anreicherung der Zielsequenzen aus Patienten-DNA (NimbleGen, chip-basiert versus in solution) wurden hinsichtlich ihrer Effektivität überprüft. In Fällen, bei denen der Verdacht auf durch Sequenzierung nicht detektierbare Mutationen bestand (strukturelle Aberrationen wie große Deletionen) wurden quantitative Analyseverfahren wie Multiplex Ligation-dependent Probe Amplification (MLPA) und chip-basierte vergleichende Genomhybridisierung (array-CGH) angewendet.

Ergebnisse

Die Hochdurchsatzsequenzierung ermöglichte den Nachweis von Mutationen auch in extrem selten ursächlichen Taubheitsgenen, die bei einem stufenweisen Vorgehen mit konventioneller Sequenzierung nicht mit einem vertretbaren Aufwand hätten detektiert werden können. Die Diagnosesicherung gelang etwa im Falle des Usher-Syndroms auch bei klinisch atypischen Fällen durch den Nachweis von Mutationen in „unerwarteten“ Genen: Hierzu werden exemplarisch verschiedene Patienten vorgestellt. In einigen Fällen fanden sich Auffälligkeiten in mehreren Genen; die Einschätzung hinsichtlich ihrer Ursächlichkeit erforderte hier die Analyse von Proben weiterer Familienmitglieder.

Diskussion

Wir haben die simultane Hochdurchsatzsequenzierung (NGS) aller bekannten Taubheitsgene etabliert. Damit ist die umfassende genetische Abklärung von Hörstörungen als Routinediagnostik erstmals möglich. Auch seltene Ursachen wie digenisch vererbte Formen sind so detektierbar. Eine frühzeitige Abgrenzung gegenüber syndromalen Formen wird durch den Mutationsnachweis in „nicht-syndromalen Genen“ möglich; zeit- und kostenaufwändige Zusatzuntersuchungen können somit entfallen. Die Detektion von Mutationen, die ein Taubheitssyndrom bedingen, gestattet auf der anderen Seite gezielte follow-up-Untersuchungen durch Fachärzte der jeweils relevanten weiteren Fachgebiete (z.B. Augenärzte beim Usher-Syndrom) und die frühzeitige Einplanung erforderlicher Hilfsmittel. Betroffene Familien können somit auf Basis umfassender genetischer Informationen humangenetisch beraten werden. Während solche Sequenzdaten durch die neuen Technologien immer leichter zu generieren sind, besteht die Herausforderung, insbesondere mit dem zunehmenden Einsatz genomweiter Sequenzierungen (Exom- oder Genomsequenzierung), vor allem in der Interpretation der Daten: hierfür werden verschiedene Strategien aufgezeigt. Unter anderem sind Informationen zum Stammbaum der betroffenen Personen hilfreich: So kann etwa bei bekannter elterlicher Konsanguinität bereits eine geringere Abdeckung der Gensequenzen zielführend sein als im Falle nicht-verwandter Eltern oder autosomal-dominant vererbter Hörstörungen.


Literatur

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Hilgert N, Smith RJ, Van Camp G. Forty-six genes causing nonsyndromic hearing impairment: which ones should be analyzed in DNA diagnostics? Mutat Res. 2009;681(2-3):189-96. DOI: 10.1016/j.mrrev.2008.08.002 External link
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Baig SM, Koschak A, Lieb A, Gebhart M, Dafinger C, Nürnberg G, Ali A, Ahmad I, Sinnegger-Brauns MJ, Brandt N, Engel J, Mangoni ME, Farooq M, Khan HU, Nürnberg P, Striessnig J, Bolz HJ. Loss of Cav1.3 (CACNA1D) function in a human channelopathy with bradycardia and congenital deafness. Nat Neurosci. 2011;14(1):77-84. DOI: 10.1038/nn.2694 External link
3.
Bolz HJ. Genetics of Usher syndrome. Ophthalmologe. 2009;106(6):496-504. DOI: 10.1007/s00347-008-1887-8 External link