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Kongressbericht: Priorisierung in der Medizin – Diskussion einer Realität

4. Ärztetag am Dom des Arbeitskreises "Ethik in der Medizin im Rhein-Main-Gebiet"

Frankfurt am Main, 29. Januar 2011

Priorisierung in der Medizin – Diskussion einer Realität

Prioritisation in medicine – discussion of a reality

Kongressbericht

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  • Ulrich Finke - Arbeitskreis Ethik in der Medizin im Rhein-Main-Gebiet; St. Katharinen-Krankenhaus Frankfurt am Main, Deutschland
  • corresponding author Gerd Hoffmann - Arbeitskreis Ethik in der Medizin im Rhein-Main-Gebiet; Johann Wolfgang Goethe-Universität, Institut für Sportwissenschaften, Frankfurt am Main, Deutschland

Arbeitskreis Ethik in der Medizin im Rhein-Main-Gebiet. 4. Ärztetag am Dom des Arbeitskreises "Ethik in der Medizin im Rhein-Main-Gebiet". Frankfurt am Main, 29.-29.01.2011. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2012. Doc11eth01

doi: 10.3205/11eth01, urn:nbn:de:0183-11eth013

Received: April 30, 2012
Published: October 16, 2012

© 2012 Finke et al.
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Zusammenfassung

Welche gesellschaftlichen Zwänge wirken auf die Medizin und ihre Anwender ein? Wie ist das Verhältnis von Ökonomie und medizinisch Gebotenem? Wie steht es mit der Finanzierung der nicht evidenzbasierten Behandlung? Stellen Rationierung und Rationalisierung die möglichen Prinzipien der Priorisierung dar? Führt die Priorisierung zur Qualitätsminderung oder gar Sorgfaltsverletzung? Diese Fragen behandelte der 4. Ärztetag am Dom in Frankfurt am Main.

Feine Unterschiede – Über Vorliebe und Abneigung im ärztlichen Alltag (Prof. Dr. med. Ralph Bickeböller, niedergelassener Arzt, Frankfurt am Main)

Die Ärzte gehen ihrem Handwerk im Zeichen der Regelleistungsvolumen, der diagnosebezogenen Entgeltpauschalen, der Leitlinien, der Evidence-based-medicine, der Regelung des Sozialgesetzbuches V, der Arznei- und Heilmittelrichtlinie und anderer vielfältiger Bestimmungen nach, so dass allein durch die Vielfalt der Regelungen und durch die Vielzahl der Kontroll- und Regressmechanismen ein System etabliert ist, das einen mehr oder weniger starken Druck auf die Ärzte entfaltet, das Notwendige, Zweckmäßige und Wirtschaftliche am Patienten durchzuführen. Wie steht es mit dem Symbolwert von operativen Eingriffen, wenn man als Operateur für eine Inkontinenzoperation, die vielleicht eine halbe Stunde dauert und zwei postoperative Visiten benötigt, deutlich mehr erlösen kann als für eine organerhaltende Nierentumorresektion von drei Stunden mit sieben postoperativen Visiten? Nicht nur Ärzte haben ihre Prioritäten, u. a. tritt der Patient als Kunde auf, der durch seine Entscheidung für eine Dienstleistung ein Entgelt für den Dienstleistenden generiert. Warum bedürfen wir überhaupt einer Priorisierung in der Medizin? Weil die gesundheitlichen Bedürfnisse der Bürger unbegrenzt sind, weil es den medizinischen Fortschritt gibt und weil die Ressourcen begrenzt sind. Es geht unter anderem deshalb um die Frage, ob es für das Gesamtsystem Medizin gelingen kann, Präferenzen mit einer der festgelegten Rangordnung folgenden Ressourcenverteilung zu entwickeln, die nachvollziehbar, transparent, demokratisch und so weit wie möglich gerecht ist. Aufgrund der notwendigen Rationierung innerhalb des Gesundheitswesens ist deshalb für eine offene Priorisierung das Wort zu reden, die unterschiedliche Präferenzen, unterschiedliche Partizipationsmöglichkeiten, vor allem konkrete Ungerechtigkeiten für ein Leben in Wohlergehen für uns alle wahrnehmen und demokratisch diskutierten lässt.

Die Allokation der stets zu knappen Ressourcen im Gesundheitswesen aus volkswirtschaftlicher Sicht (Prof. Dr. Klaus-Dirk Henke, Fachgebiet Finanzwissenschaft und Gesundheitsökonomie, Technische Universität Berlin)

Die Allokation der stets zu knappen Ressourcen wird anhand einer Fünf-Ebenen-Betrachtung erläutert. Beim top-down und beim bottom-up Ansatz wird deutlich, dass und in welcher Form die unterschiedlichen Verwendungszwecke miteinander konkurrieren. Zu einer wünschenswerten Allokation der Ressourcen gibt es Hinweise aus der Wohlfahrtstheorie, aber keine empirische Basis für eine optimale Zuordnung der knappen Mittel. Anreizkompatible Finanzierungs- und Vergütungssysteme sowie die Ergebnisse der Krankheitskostenrechnungen helfen bei der Verwirklichung einer besseren Allokation. Von zentraler Bedeutung sind jedoch die vier ausgewählten Wettbewerbsfelder im Gesundheitswesen. Außerdem wird für die zukünftige Entwicklung die wachsende Bedeutung des Humankapitals für Wachstum und Produktivität in den Vordergrund gestellt und das Gesundheitswesen innerhalb der vielen Wirtschaftszweige angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrise in 2008/2009 als besonders stabil eingeschätzt.

Priorisierung und die deutsche Vergangenheit – Warum die Priorisierungsdebatte so heikel ist (Prof. Dr. Weyma Lübbe, Lehrstuhl für Praktische Philosophie, Universität Regensburg)

Die Debatte über eine Priorisierung medizinischer Maßnahmen ist in Deutschland nach wie vor überwiegend eine akademische Debatte. Von politischer Seite wird das Thema als „unethisch“ bezeichnet und die Diskussion wird durch Negierung der Knappheit vermieden. Diese im internationalen Vergleich auffällige Zurückhaltung der Politik ist auch durch die Angst bedingt, offizielle Stellen könnten durch eine solche Debatte gezwungen werden, vergleichende Urteile über den „Wert“ des (Über-)Lebens verschiedener Patienten oder Patientengruppen zu fällen. Lebenswerturteile von staatlicher Seite waren wesentlicher Bestandteil der Kampagnen, mit denen im Nationalsozialismus das Euthanasie-Programm vorbereitet wurde. Damit möchte niemand auch nur entfernt in Verbindung gebracht werden. Der vorliegende Beitrag argumentiert, dass interpersonell vergleichende Lebenswerturteile kein unvermeidbarer Bestandteil einer Priorisierungsdebatte sind und dass sie in der Tat vermieden werden sollten. Im Rahmen politiknaher Fachkontroversen, namentlich in der Kontroverse zwischen deutschen Gesundheitsökonomen und dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) über die Methoden der Kosten-Nutzen-Bewertung für Arzneimittel nach § 35 b SGB V, werden sie freilich nicht konsequent vermieden. Eine kontinuierliche kritische Beobachtung und Beurteilung der Implementation ökonomischer Evaluationsmethoden im Blick auf rechtliche und ethische Maßstäbe ist daher unbedingt zu empfehlen.

Schlüsselwörter: Priorisierung in der Medizin, Rationierung, Rationalisierung, Ökonomie, Gesundheitswirtschaft, Humankapital, Finanzierung, Vergütung, konkurrierende Verwendungszwecke, Allokation der Ressourcen, Wettbewerbsfelder, gesellschaftliche Zwänge, diagnosebezogene Entgeltpauschalen, Regelleistungsvolumen, Leitlinien, Evidence based medicine, Sozialgesetzbuch V, Arznei- und Heilmittelrichtlinie, Kontroll- und Regressmechanismen, Kosten-Nutzen-Analyse, Beurteilungen, Bewertungen

Abstract

Which social constraints have an effect on medical care and its users? What is the relationship between economy and what is medically indicated? What about the financing of non-evidence-based treatment? Are rationing and rationalisation the possible principles of prioritisation? Does prioritisation lead to diminished quality or even to gross negligence? All of these questions were addressed at the “4. Ärztetag am Dom” in Frankfurt/Main.

Subtle differences – Our preferences and dislikes in everyday medicine (Prof. Dr. med. Ralph Bickeböller, physician, Frankfurt/Main)

Doctors go about their profession according to the principles of service volumes, diagnosis-related fixed payments, guidelines, evidence-based medicine, the rules of the social security code, the pharmaceutical and medical remedies directives, together with a variety of other provisions, so that through the diversity of the regulations and the numerous control and regress mechanisms alone, a system has been established, which puts a more or less strong pressure on doctors to carry out only what is necessary, expedient and economic. What about the symbolic value of surgical procedures when the surgeon can earn significantly more for an incontinence operation which may last for half an hour and requires two post-operative visits than for an organ-conserving kidney tumour resection lasting three hours and requiring seven post-operative visits? Not only doctors have their priorities, but also the patient, as a customer through his decision for a service, generates remuneration for the supplier. Why is prioritisation required in the field of medicine at all? Because the health care needs of the citizens are unlimited, because of medical progress, and because the resources are limited. Among other things it concerns the question of whether it is possible for the complete medical system to be capable of defining a hierarchy in accordance with the resource distribution, which is understandable, transparent, democratic and – as far as possible – fair. Due to the necessary rationing within the medical care system, an open prioritisation should be favoured which allows the democratic discussion of different preferences, different participation possibilities, and above all specific injustices so that a life of well being can be experienced by all of us.

The allocation of constantly diminishing resources for the health system from an economic point of view (Prof. Dr. Klaus-Dirk Henke, Financial Science and Health Economy, Technical University Berlin)

The allocation of ever scarce resources is explained employing a five-tier investigative process. Both the top-down and the bottom-up model show how different uses compete with one another. Welfare theory provides some suggestions as to a desirable allocation, but offers no empirical basis for an optimized distribution of resources. Incentive-based systems for financial provision and remuneration and the results of disease cost calculations favour a better allocation. However, of central importance are four selected areas of competition in the health system. The increasing importance of human capital must be seen as standing in the foreground of future development for growth and productivity. Additionally, in light of the current financial crisis and economic downturn in 2008/2009 the health industry must be seen as particularly resistant among the many branches of the economy.

Prioritisation and the German past – Why the debate on prioritisation is so sensitive (Prof. Dr. Weyma Lübbe, Chair of Practical Philosophy, University Regensburg)

The debate on health care priorities is still an almost purely academic debate in Germany. Politically, the topic is labelled as “unethical” and its discussion is avoided by denying a scarcity of resources. Prof. Lübbe argues that the conspicuous German delay in dealing with the topic is due to people’s fear of a debate that might force officials to make judgements on the “worth” (or “value”) of different patients’ or groups of patients’ lives, since such judgements featured in the Nazi campaign that lead to the “euthanasia” program. In analysing the recent German debate on the implementation of a cost-effectiveness assessment for drugs (which has not officially been accepted as constituting a prioritisation device), Prof. Lübbe argues that judgements of the type mentioned actually do feature in that debate. They are, however, not an unavoidable ingredient of prioritising health care, and they should indeed be avoided.

Keywords: prioritisation in medicine, rationing, rationalisation, economy, healthcare industry, human capital, financing, remuneration, competing purposes of use, allocation of resources, competitive uses, social pressures, diagnosis-related fixed payments, standard service volumes, guidelines, evidence-based medicine, social security code, pharmaceutical and medical remedies directives, control and regress mechanisms, cost effectiveness analysis, assessments, evaluation


Fragestellungen und Einführung in den 4. Ärztetag am Dom in Frankfurt am Main

Welche gesellschaftlichen Zwänge wirken auf die Medizin und ihre Anwender ein? Wie ist das Verhältnis von Ökonomie und medizinisch Gebotenem? Wie steht es mit der Finanzierung der nicht evidenzbasierten Behandlung? Stellen Rationierung und Rationalisierung die möglichen Prinzipien der Priorisierung dar? Führt die Priorisierung zur Qualitätsminderung oder gar Sorgfaltsverletzung? Diese Fragen behandelte der 4. Ärztetag am Dom in Frankfurt am Main.

Prof. Dr. med. Ulrich Finke, Vorsitzender des Arbeitskreises Ethik in der Medizin im Rhein-Main-Gebiet, Ärztlicher Direktor des St. Katharinen-Krankenhauses Frankfurt am Main, führte in den 4. Ärztetag am Dom in Frankfurt am Main ein:

Durch die Zwänge der Ökonomie und den inneren Anspruch, die Patienten bestmöglich zu versorgen, steigt der Druck auf die Ärzte und alle im Gesundheitswesen Tätigen.

Die Priorisierung ist ein Verfahren, um die Vorrangigkeit bestimmter Indikationen oder Verfahren vor anderen festzustellen. Sie ist eine notwendige Voraussetzung vor einer sinnvollen Rationierung. In anderen Ländern ist diese Diskussion in vollem Gange, in Deutschland bisher erst in den Anfängen. Durch die steigenden Kosten im Gesundheitswesen und die gestiegenen Ansprüche an das Gesundheitssystem, teilweise durch die demographische Entwicklung, müssen auch wir uns dieser Diskussion stellen. Der Ärztetag soll hierzu zum Nachdenken und zur Diskussion anregen.

Ein Grußwort wurde von Bischof Dr. Franz-Peter Tebartz-van Elst gehalten.


Feine Unterschiede – Über Vorliebe und Abneigung im ärztlichen Alltag (Prof. Dr. med. Ralph Bickeböller, niedergelassener Arzt, Frankfurt am Main)

Der Titel bezieht sich auf: Bourdieu P. Die feinen Unterschiede. Suhrkamp Verlag: Frankfurt am Main 1987, weil ich überzeugt bin, dass in allen sozialen Beziehungen, so auch in der Medizin, „die Akteure in ihrer Alltagspraxis selbst Subjekte von soziale Welt konstituierenden Akten sind“ ([1], S. 729).

Wir Ärzte gehen unserem Handwerk im Zeichen der Regelleistungsvolumen, der diagnosebezogenen Entgeltpauschalen, der Leitlinien, der Evidence-based-medicine, der Regelungen des Sozialgesetzbuches V, der Arznei- und Heilmittelrichtlinie und anderer vielfältiger Bestimmungen nach, so dass allein durch die Vielfalt der Regelungen und durch die Vielzahl der Kontroll- und Regressmechanismen ein System etabliert ist, das einen mehr oder weniger starken Druck entfaltend die Ärzte dazu bringen soll, das Notwendige, Zweckmäßige und Wirtschaftliche am Patienten zu vollziehen.

Ein Schuft, der meint, dass systeminduzierte Präferenzbildungen eine Rolle spielten. Ein Beispiel: Für die Therapie des lokalbegrenzten Prostatakarzinoms kommen derzeit grundsätzlich zwei Verfahren zur Anwendung: die Radikaloperation und die Strahlentherapie in Kombination mit einer Hormonentzugstherapie ([2], S. 111). Die neue Onkologievereinbarung ([3], S. 5) verlangt für den onkologisch verantwortlichen niedergelassenen Arzt eine Mindestmenge von Patienten, die einer tumorspezifischen medikamentösen Therapie bedürfen, z.B. einer Hormonentzugstherapie. Könnte aus diesem Grund der niedergelassene Urologe ein Interesse haben, dass der Patient einer Strahlentherapie zugeführt wird, damit er die hormonablative Begleittherapie durchführt? Die Klinik benötigt Mindestmengen für die Radikaloperation, um als zertifiziertes Prostatakarzinomzentrum ([4], S. 26) zu reüssieren. Könnte aus diesem Grund die Klinik ein Interesse haben, dass der Patient der Operation zugeführt wird? Welche Präferenzen spielen in meiner Situation als niedergelassener und operativ tätiger Urologe tragende Rollen? Die Freude am operativen Handwerk? Die Notwendigkeit, genügend medikamentös behandelte Patienten als onkologisch verantwortlicher Arzt zu haben? Eine ausreichende Zahl Patienten mit Blick auf die Zertifizierung operativ versorgen? Selbstverständlich, so werde ich ermahnt, soll der Patient nach ausführlicher Aufklärung und objektiver Wertung der Verfahren entscheiden. Nun hat die Operation wahrscheinlich nach sieben Jahren einen Überlebensvorteil für den Patienten, wobei die Frühkomplikationen der Operation gegenüber der Strahlenbehandlung deutlicher ausgeprägt sind. Dann kommt die Frage nach den Verfahren: offene Chirurgie durch Bauchschnitt oder Dammschnitt, klassische Laparoskopie oder roboterassistierte; HDR- oder LDR-Brachytherapie oder konformale Bestrahlung? Es ist schon für den Fachmann schwer, dabei den Überblick zu behalten und nicht auch den Marketingstrategien zu verfallen, die gerade für die Methode die besten Ergebnisse präsentieren, die man anbieten kann. Oder man verfällt der Bauchladenstrategie und bietet alles an, alles ist gleich gut, der Patient möge wählen, aber vielleicht kann insbesondere diese eine Methode empfohlen werden, weil sie angeblich für den Patienten besser passt? Könnten größere Geräteparks nur deshalb angeschafft sein, damit der Bauchladenverkäufer alles auf der Karte hat, aber heute ganz besonders das eine Gericht empfiehlt, weil es das einzige ist, das er gut kochen kann? Oder weil es innerhalb des Entgeltsystems besonders gut honoriert ist? Ein Schuft, der Böses dabei denkt!

Wie steht es mit dem Symbolwert z.B. von operativen Eingriffen, wenn ich als Operateur für eine Inkontinenzoperation, die vielleicht eine halbe Stunde dauert und zwei postoperative Visiten benötigt, deutlich mehr überwiesen bekomme als für eine organerhaltende Nierentumorresektion von drei Stunden Dauer mit sieben postoperativen Visiten? Welche Operation besitzt in unserem Entgeltsystem den größeren nicht nur symbolischen Wert? Wie sieht es mit der wichtigsten Ressource aus, der Zeit?

Die durchschnittlich für einen Patienten pro Termin zur Verfügung stehende Zeit für Anamnese, körperliche Untersuchung und Gespräch sind in unserer Praxis sechs Minuten. Das sind errechnete Durchschnittszeiten, geplant wird im Fünfzehnminutentakt, allerdings im Wissen, dass „als Notfälle“ mindestens die gleiche Anzahl an Patienten noch einmal erscheint. Ein Privatpatient erbringt unserer Praxis einen sechsmal höheren Erlös als ein Kassenpatient. Aber nicht jeder Privatpatient ist ein Privatpatient: es gibt die „richtigen“ Privatpatienten und die, die nur ein „bisschen“ Privatpatient sind, sei es, weil sie den Standardtarif wählten oder weil sie z.B. als Postbeamte „KVB“-Patienten sind. Wie steht es mit den Selbstzahlerleistungen im Zweiten Gesundheitsmarkt? Wie mit den gebrechlichen Patienten, die allein zum Entkleiden mit Unterstützung einer Mitarbeiterin eine Viertelstunde brauchen? Was ist mit den Patienten, die mit allen verfügbaren Informationen bewaffnet eine Dritt-, Viert- oder Mehrfachmeinung einfordern? Wie verhalte ich mich bei Patienten, die über die neusten Entwicklungen in der Medizin bestens unterrichtet sind und bereits eine klare Meinung über die Art und Weise einer Diagnostik und Therapie haben, diese jedoch kostspielige, gut vermarktete, mit dem Terminus Innovation plakatierte Methoden sind, deren Wertigkeit in eindeutigen Studien nicht belegt ist? Ganz zu schweigen von eventuellen medizinischen Interessen und Vorlieben, ich will sie nicht Hobbys nennen, die ich als Arzt natürlich auch habe? Mit welchen Präferenzen entwickele ich also mein Terminplanungssystem, wenn ich mir all diese vielen kleinen Unterschiede vor Augen führe und diese vielen kleinen Unterschiede eine Abbildung im Zeitbedarf einfordern?

Wo es ein Problem gibt, da gibt es auch Ratgeber. Also lassen Sie mich in eines der vielen Bücher zum Zeitmanagement ([5], S. 24; [6], S. 22f.) schauen, wo wir, oh Wunder, zum ersten Mal mit dem Begriff der Prioritätensetzung oder Priorisierung konfrontiert werden, nämlich als Festlegung von Prioritäten im Sinne von mehr oder weniger Dringlichkeit und von mehr oder weniger Wichtigkeit mit einer den festgelegten Prioritäten folgenden Zeitzuteilung.

Nun haben nicht nur Ärzte ihre Prioritäten. Unter anderem tritt der Patient als Kunde auf, der durch seine Entscheidung für eine Dienstleistung ein Entgelt für den Dienstleister generiert. Für das Überleben eines Unternehmens in der Gesundheitswirtschaft spielt die Fähigkeit, dauerhaft Patienten/Kunden zu binden, eine zunehmend wichtige Rolle. Die ewigen Reden der Qualitätsmanager setzen auf die Kundenzufriedenheit als Erfolgsfaktor. Auf der Grundlage von Patientenbefragungen soll die Leistungs- und Servicequalität verbessert werden, was eine höhere Patientenzufriedenheit zur Folge habe. Doch ist die Kunden-/Patientenzufriedenheit denn auch ein Garant für wirtschaftlichen Erfolg? Eine Benchmarkstudie ([7], S. 37) der Deutschen Gesellschaft für Qualität aus dem Jahr 2007 zeigte, dass eine höhere Kundenzufriedenheit mit einer geringeren Rendite einhergehen kann. Die Investition in die Leistungsebene muss sich nicht unbedingt bezahlt machen. Warum? Weil nur ca. 28% der Kunden eine hohe Gesamtzufriedenheit mit hoher emotionaler Bindung aufweisen, 34% zeigen eine hohe Zufriedenheit mit der Leistung, haben aber eine nur geringe emotionale Bindung, ca. 19% der Kunden sind unzufrieden mit einer eher weniger ausgeprägten emotionalen Bindung. 82% der Kunden sind demnach mit der Leistung sehr zufrieden. Jedoch nur 58% der zufriedenen Kunden habe auch eine hohe emotionale Bindung ([7], S. 38). Und, will man der Studie der Gesellschaft für Qualität Glauben schenken, vor allem die emotionale Bindung des Kunden an das Dienstleistungsunternehmen garantiert einen nachhaltigen wirtschaftlichen Erfolg. Denken Sie an den Preis von Markenartikeln im Vergleich zu No-name-Produkten, denken Sie an die Bereitschaft für Zusatzausgaben beim Automobilkauf, lassen Sie uns an die Zahlungsbereitschaft für Zusatzleistungen der Selbstzahlermedizin im Zweiten Gesundheitsmarkt denken. Ein Beispiel: Wir alle wissen, dass ein großer Teil der onkologischen Patienten außerhalb der Kassenmedizin sich bei Heilpraktikern, Naturheilkundlern und anderen Anbietern zusätzlich in Behandlung befinden. (In der Schweiz stimmten die Bürger im Mai 2009 für die Festschreibung der Komplementärmedizin als Bürgerrecht in die Verfassung. Siehe das Interview von Ullmann M mit Saller R: Komplementärmedizin als Bürgerecht [8]). Dieser Zweite Gesundheitsmarkt lebt von der emotionalen Bindung. Wie sonst ist die Zahlungsbereitschaft für eine homöopathische Anamnese von 180 Euro (gesehen in: http://www.naturheilpraxis-saupp.com/Preise/1,000000005298,8,1 [24.01.2011]) zu erklären, eingedenk der Tatsache, dass der niedergelassene Urologe im Ersten Gesundheitsmarkt ganze 24 Euro brutto pro Patient pro Quartal erhält, dafür aber Hunderte von Euro an Ausgaben generiert? Könnte es vielleicht sein, dass die emotionale Bindung beim Patienten durch einen zusätzlichen konsumtiven Nutzen gestiftet wird, hingegen wir im Ersten Gesundheitsmarkt eben nur das Notwendige und Bittere der Medizin bieten? Dass das dann nichts zusätzlich kosten darf, allenfalls 10 Euro Praxisgebühr, ist gut einsehbar. Wie kann es mir gelingen, als normaler Kassendoktor an diesem Zweiten Gesundheitsmarkt teilzunehmen? Wie gestalte ich eine emotionale Bindung, die sich als Zahlungsbereitschaft darstellt? Der Patient/Kunde zeigt ein Verhalten als Reaktion auf mein Verhalten, das sich wiederum dem Verhalten des Kunden anpasst. Wir haben es hier mit klassischen Problemen der Spieltheorie zu tun, die jedoch mit Blick auf notwendige Priorisierungsleistungen von Unternehmen der Gesundheitswirtschaft für ihr Überleben wesentlich sind, ebenso wichtig wie die Betrachtung des Kunden/Patienten als Marktteilnehmer mit einem nutzenmaximierenden Verhalten. Das nutzenmaximierende Verhalten, die Annahme des Marktgleichgewichtes und die Präferenzstabilität machen den Kern ökonomischer Betrachtungen des menschlichen Verhaltens aus wie der Nobelpreisträger Garry Becker es sieht, das für die Beschreibung des ärztlichen wie des patientlichen Verhaltens gut genutzt werden kann ([9], S. 4). Im ärztlichen Alltag bestehen also kleine, aber feine Unterschiede zwischen den Patienten, die sich in deren Bildungskapital, emotionalen, wirtschaftlichen und kulturellen Kapital widerspiegeln ([1], S. 143ff.) und ein unterschiedliches nutzenmaximierendes Verhalten generieren, auf das der Arzt mehr oder weniger bewusst innerhalb der Vorgaben des Gesundheitssystems interessengeleitet reagiert.

Wie nun steht es mit den Überlebensaussichten für Unternehmen der Gesundheitswirtschaft (ich übernehme aus: [10])? Etwa 14% aller Erwerbstätigen arbeiten in Deutschland in der Gesundheitsbranche, das sind etwa 5,5 Millionen Menschen. Kein anderer Wirtschaftszweig in Deutschland hat mehr Beschäftigte. Deutsche Bank Research beziffert den Anteil an der Wertschöpfung mit gut 10% ([10], S. 3). Eigentlich böte der Gesundheitssektor mit seinen Dienstleistungen einen günstigen Ansatzpunkt für eine binnenwirtschaftliche Wachstumspolitik. Weiterhin darf der medizinische Anteil am Wohlergehen der Bürger als wichtiger Beitrag für die Volkswirtschaft nicht unterschätzt werden. So erbringt jeder Tag weniger Krankenstand einen Produktionsgewinn von 10 Milliarden Euro ([10], S. 4). Widersprüchlich scheint dagegen die ständige Behauptung, das Gesundheitswesen sei nur ein Kostenfaktor. Wenn wir genau hinschauen, trifft die Aussage nur für den Ersten Gesundheitsmarkt zu, nämlich dem Bereich, der durch die gesetzlichen Krankenversicherungen finanziert wird. Die gesetzliche Krankenversicherung erhält ihr Geld durch Beiträge von Arbeitseinkommen. Ein stark expandierender Gesundheitsmarkt kann nicht von einem weniger stark wachsenden, wenn nicht sogar schrumpfenden Arbeitsmarkt bezahlt werden. Wenn im Ersten Gesundheitsmarkt die Wertschöpfung mit 8% deutlich hinter dem Beschäftigtenanteil von 14% liegt, so zeigt das nicht unbedingt eine unterdurchschnittliche Produktivität, wie es die Politik oft behauptet, sondern resultiert auch daher, dass viele Dienstleistungen nicht zu Marktpreisen bezahlt werden, sondern zu administrativen Preisen, die sich sehr stark an Kosten orientieren ([10], S. 5).

Um wenigstens den Anschein einer Finanzierbarkeit des Ersten Gesundheitsmarktes zu erwecken, setzt die Politik auf Steuerungsinstrumente, die letztlich nichts anderes als strukturelle Fesseln für den Ersten Gesundheitsmarkt sind. Als Wachstumsmotor tritt deshalb vor allem der Zweite Gesundheitsmarkt in den Blick, jener Markt mit direkt vom Bürger finanzierten Dienstleistungen und Produkten der Gesundheitsbranche.

Diese erbrachten Leistungen treten nicht als Belastung in den volkswirtschaftlichen Bilanzen auf, sondern als Konsumausgaben, die als positiver Beitrag zur Binnennachfrage gewertet werden. Zunehmend sollen deshalb Gesundheitsleistungen aus dem Ersten Gesundheitsmarkt in den Zweiten verschoben werden, was für den Bürger bedeutet, dass eine wachsende Nachfrage nach Gesundheitsleistungen zu einem überwiegenden Teil selbst zu finanzieren ist. Als Leistungsanbieter habe ich mich mit meiner Präferenzbildung diesen Gegebenheiten anzupassen, um weiter erfolgreich im Markt agieren zu können. Ich weiß, dass im Ersten Gesundheitsmarkt Kosten/Nutzen-Analysen weiter ausgebaut werden und als Grundlage für die Erstattung durch die gesetzliche Krankenversicherung dienen. Ich weiß, dass im Zweiten Gesundheitsmarkt als käuferorientierter Markt die Fokussierung auf Kernkompetenzen wichtig und die Entwicklung einer – nennen wir es – Markenaura notwendig ist. In dieser Weise als Gesundheitsunternehmer zu denken, ist sowohl für den niedergelassenen Arzt als auch für den Krankenhausarzt überlebensnotwendig, es sei denn, er will sich – erlauben Sie mir die kleine Bösartigkeit – für Gottes Lohn kaputt arbeiten. Ich bin der Überzeugung, dass die meisten Ärzte sich dieser Spielregeln bewusst sind. Spätestens während ihrer Zeit als Assistenzarzt wird ihnen der jeweilige Chef die Notwendigkeiten einer guten Codierung und eines guten Case-Mix beibringen. Die Medizin ist während der Facharztweiterbildung das eine, vielleicht sogar das Leichtere. Das Schwierigere ist der Umgang mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen, sei es die Zeit für das, was man Redende Medizin nennt, die Zeit für das, was einen behandelten Patienten erst zu einem Objekt innerhalb der Wertschöpfungskette Gesundheitssystem macht, nämlich der geschickte Umgang mit ICD, OPS, DRG, sei es die Zeit, die man gemeinsam mit Mitarbeitern des Medizinischen Dienstes der Krankenkasse bei deren stundenlanger Überprüfung von Krankenakten verbringt. Man lernt schnell, dass es gute und schlechte Patienten gibt, dass man den einen lieber auf Station sieht als den anderen, dass Tricks und Kniffe jenseits der Medizin den Erfolg in der Medizin wesentlich mitgestalten. Der innerhalb der Organisationen der Gesundheitswirtschaft aufgebaute Druck, diesen gegebenen Notwendigkeiten zu genügen, ist enorm. Nein, es ist kein Druck, der offen daher kommt. Natürlich geht es immer um das Wohl des Patienten, natürlich ist die marketingtechnisch verwertbare Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe jenseits der ökonomischen Verwertbarkeit stets das oberste Prinzip der Unternehmenspolitik, aber, wenn unsere Organisation sich nicht am Markt behaupten kann, wer soll dann bitte sehr die Fahne der Humanität weiter tragen? Deshalb die enormen Ressourcen, die für symbolisch verwertbare medizinische Leistungen ausgegeben werden, deshalb das konkrete Rationieren im Kleinen, dort wo es nicht um symbolische, sondern bloß um statistische Menschenleben geht. Verluste mit Symbolik lassen sich besser verkaufen als Verluste im Banalen, denn das symbolische Menschenleben trifft das moralische Gefühl, welches Gefühl soll das statistische Menschenleben wecken? Gut lässt sich dann für ökonomische Notstände eine ethische Legitimation finden. Gerne springt die jüngst im Fächerkanon der Medizin sich etabliert habende Medizinethik als Legitimationsbeschafferin ein. Außerdem setzt sie uns Ärzten den Stachel des Schlechten Gewissens in den Kopf, nämlich zerrieben werden zwischen den Ansprüchen der untersten Allokationsebene angesichts des Patienten und den Ansprüchen der übergeordneten Allokationsebene des Unternehmens und des Staates. Wen wundert es da, dass wir mehr und mehr eine Art Angestelltenmentalität in der Ärzteschaft finden, die sich mehr und mehr in das Räderwerk bürokratiebeherrschter Organisationen fraglos einfügen, sich tatsächlich als Rad einer großen Maschine empfinden, deren Telos ihnen allerdings nicht mehr zugänglich ist. Wir Ärzte haben uns weitestgehend der Herrschaft durch Bürokratie gebeugt, die selbstverständlich im Sternbild der Transparenz, der Qualität und des größtmöglichen Nutzens leuchtet. Im Verlauf seiner Ausbildung wird über die Jahre hinweg dem Subjekt listig die bürokratische Macht tief eingeschrieben. Der große Stellenwert der sogenannten Selbsttechniken (vgl. [11]) für die heutigen Angestelltenscharen ist eben darin begründet, nicht mehr die Organisation die Kontrolle ausüben zu lassen, sondern sie in das Innere des Subjektes verlagert zu haben, wo sie effektiver und ohne den Makel des äußeren Zwanges wirken kann. Eine der wesentlichen Selbsttechniken ist das Zeitmanagement. Ich erzählte Ihnen vorhin, den Begriff der Priorisierung das erste Mal im Zusammenhang mit meinen Bemühungen um mein Zeitmanagement gefunden zu haben. Weil Zeit eine der knappsten Ressourcen ist, die ein Mensch hat, soll die Selbsttechnik des Zeitmanagements eine möglichst effektive Nutzung dieser knappen Ressource für die Organisation garantieren. Die mit der Muttermilch eingesogene und tief internalisierte Einsicht in die Notwendigkeit der Selbsttechniken hat ein Denken sich etablieren lassen, das selbstverständlich die Idee der Priorisierung als quasi natürliche Technik nutzt. Das Ziel des Zeitmanagements ist nicht eine dumpfe Optimierung meines Terminplans, damit noch mehr Patienten in noch kürzerer Zeit durch die Praxis geschleust werden können. Persönliche Bedürfnisse nach Partnerschaft, Familie, Erholung, Bildung, Kultur oder Teilnahme am sozialen Leben stehen ganz oben auf der Liste eines gut betriebenen Zeitmanagements, so dass der Begriff der Priorisierung durchaus eine positive Konnotation erhält. Priorisierung hilft mir in meinem alltäglichen Entscheidungsnotstand bei der Verwendung von Zeit im Praxisalltag.

In diesem Sinne kann Priorisierung vor allem bei den jüngeren Kollegen mit einer eher postmateriellen Lebenseinstellung den Wunsch sich niederzulassen oder überhaupt eine klinische Tätigkeit auszuüben hintertreiben. Deutschland ist für Ärzte ein Abwanderungsland, nicht zuletzt deshalb, weil die bürokratische Durchdringung des Gesundheitswesens tief bis in die Subjekte hinein greift. Wenn Medizin nicht alles im Leben ist, wer möchte sich dann in einer strukturschwachen Region ansiedeln, selbst wenn das versprochene Gehalt ein sicheres und überdurchschnittliches ist? Andere Güter wie Zukunftssicherheit, Planbarkeit, Vereinbarkeit mit Familie, soziokulturelles Umfeld, adäquate Arbeitsmöglichkeiten für den Lebenspartner usw. spielen eine wesentliche Rolle bei der Generierung einer Präferenzordnung. Gleichwohl bleibt die generierte Rangordnung eine sehr persönliche. Wir alle haben unsere Präferenzordnungen, mal mehr, mal weniger transparent und diskursiv gestaltet, es bleibt jedoch die positive Konnotation der Selbsttechnik Priorisierung übrig, womit das Tor für eine positive Konnotation des Begriffs im öffentlich-politischen Raum geöffnet ist.

Worum also geht es, wenn wir uns mit „Priorisierung in der Medizin“ beschäftigen?

Zum einen und das ist für einen jeden Spieler im System das Schwierigste, um die versteckten Präferenzen, um das mehr oder weniger Bewusste im Umgang mit Ressourcen in der Medizin, um rationales und irrationales Verhalten als Reaktion auf andere Spieler. Zum anderen geht es um die Frage, ob es für das Gesamtsystem Medizin gelingen kann, Präferenzen mit einer der festgelegten Rangordnung folgenden Ressourcenverteilung zu entwickeln, die nachvollziehbar, transparent, demokratisch und so weit als möglich gerecht ist. Warum bedürfen wir überhaupt einer Priorisierung in der Medizin? Weil die gesundheitlichen Bedürfnisse der Bürger unbegrenzt sind, weil es den medizinischen Fortschritt gibt und weil die Ressourcen begrenzt sind.

Weil es sich um eine überindividuelle Präferenzordnung handelt, die Ausdruck einer gesamtgesellschaftlichen Werteordnung sein sollte, bedarf es in jedem Fall einer demokratischen Legitimation der Entscheidungsorgane, was ein transparentes Verfahren einschließt. Die vorhandenen Mittel, die auf der politischen Bühne dem Gesundheitswesen zugewiesen werden, sollen bei wachsendem Bedarf auf das Wesentliche konzentriert sein. So weit die einfache Logik. Was aber ist das Wesentliche? Lebenszeit? Eine gute Lebensqualität? Eine gerechte Gesellschaft? Freiheit? Glück? Auf was kann die Medizin Einfluss nehmen? Wie ist die Einflussnahme zu quantifizieren? In welchem Verhältnis stehen Präferenzen und Nutzen? Wem nutzt die Priorisierung? Welcher politische Prozess führt zu welcher Maßnahme? Wie steht es mit dem Minderheitenschutz mit besonderen Präferenzen? Wie lässt sich Leben bewerten? Wie lassen sich knappe Güter gerecht verteilen, so die Grundfrage an die Politik, letztlich an das Volk.

In meiner Wahrnehmung sind in den letzten Jahrzehnten vor allem vier Theorien hervorgetreten: die Diskurstheorie à la Habermas, der Kommunitarismus à la Walzer, ein Liberalismus à la Hayek und ein weiterer Liberalismus à la Rawls, wahrscheinlich die wirkmächtigste Theorie unter den genannten. Ich möchte mich mit kurzen Einwürfen zu Rawls Theorie der Gerechtigkeit als Fairness beschränken. Er geht von einem fiktiven Urzustand ([12], S. 140ff.) aus, in dem alle Beteiligten in gleicher Weise keine Kenntnis über ihre persönliche Identität und über erworbene Vorrechte haben. Um den möglichen Schaden der ungünstigsten Situation zu minimieren und den Nutzen der günstigsten Situation zu mehren, ist Rawls davon überzeugt, dass unter Wahrung dieses Interesses ein einziger Satz von Prinzipien für gerechte Institutionen gewählt würde. Der erste Gerechtigkeitsgrundsatz ist das Freiheitsprinzip: „Jedermann hat das gleiche Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem von gleichen Grundfreiheiten, das für alle möglich ist.“ ([12], S. 336). Der zweite Gerechtigkeitsgrundsatz ist das Differenzprinzip, das in seinem ersten Teil garantiert, dass öffentliche Chancen allen zugänglich sind, und das im zweiten Teil die am wenigsten begünstigten Mitglieder einer Gesellschaft möglichst günstig stellt ([12], S. 336).

Lassen Sie mich an einem praktischen Beispiel (als Beispiel nutze ich: [13], S. 25) das Vorgehen erläutern: Die Rentenbeiträge der Bevölkerungsgruppe im unteren Viertel der Einkommensverteilung sind nicht ausreichend, um eine ausreichende Rentenauszahlung über die durchschnittliche Rentendauer der Gesamtbevölkerung zu sichern. Also kommt ein solcher Rentner in den Genuss einer Umverteilung zu seinen Gunsten, er erhält eine höhere Rentenauszahlung als ihm eigentlich zustehen würde, womit dem ersten und zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz genüge getan ist. Aber stimmt sie denn, die Behauptung der Umverteilung von oben nach unten? Eine differenzierte Betrachtung zeigt das Gegenteil, nämlich eine Umverteilung zu Lasten der ärmsten Rentner. Wie das? Die Berechnungsgrundlage für die Rentenberechnung sind nur die amtlichen Sterbetafeln, die jedoch nicht nach Einkommen differenzieren. Im Durchschnitt kommt eine Einkommensumverteilung von 12.000 DM – neuere Studien lagen mir leider nicht vor – von oben nach unten zustande. Da aber die Rentendauer des unteren Einkommensviertels mindestens 6 Jahre kürzer ist als die des Bevölkerungsdurchschnitts, kommt es zu einer Netto-Umverteilung von ca. 20.000 DM pro verlorenem Jahr, was in Summe bedeutet, dass das untere Einkommensviertel die beiden oberen Einkommensviertel mit durchschnittlich 108.000 DM subventioniert. Bei einem schon geringen Einkommen sind die Rentenbeiträge von Arbeitnehmern im unteren Einkommensviertel zu hoch, so dass zum Beispiel Mittel für Individuelle Gesundheitsleistungen (IgeL) nicht zur Verfügung stehen, was dazu führt, dass eine Prostatakrebsfrüherkennungsuntersuchung nicht mit der selbst zu bezahlenden Bestimmung der Konzentration des Prostataspezifischen Antigens (PSA) stattfindet, womit die Treffsicherheit für ein Prostatakarzinom im heilbaren Stadium deutlich sinkt. Da Patienten in höheren Einkommensgruppen ohne Probleme die Mittel für den „PSA-Test“ aufbringen können, nutzen sie diese Methode. Wenn ein Prostatakarzinom frühzeitig erkannt wird, dann erreichen die therapierten Patienten eine durchschnittliche Lebenserwartung, die ca. 10% länger ist als bei einer altersadaptierten männlichen Population (vgl. [14]). Ein solcher als zu recht ungerecht einzuschätzender Effekt ist die Folge des Versuchs, im Rahmen institutioneller Fairness Gerechtigkeit zu produzieren, was vielleicht besser als mittelstandsorientierte Gerechtigkeit bezeichnet werden könnte. In seinem neusten Buch behauptet Amartya Sen, Rawls überschätze die Chancen nach Maßgabe ihrer zur Verfügung stehenden Mittel und unterschätze die Unterschiede an Fähigkeiten, Grundgüter in gutes Leben zu konvertieren ([15], S. 94). Die Rawlssche Fixierung auf gerechte Institutionen überschätzt die Wirksamkeit der Grundgüter und unterschätzt die tatsächlich vorhandenen Freiheiten und Chancen. Es gehe nicht um eine Theorie der Gerechtigkeit, sondern um die Idee der Gerechtigkeit, so der Titel von Sens Buch, es geht darum, dass Gerechtigkeit sich an der Lebensführung konkreter Menschen zu messen hat und sich nicht im Prozeduralen erschöpft. Dies macht die Schwierigkeit eines demokratisch-transparenten Verfahrens der Priorisierung bis hin zur positiven-gesetzlichen Ausgestaltung aus. Das positive Recht formuliert Ansprüche, produziert Rechtsbeziehungen. In gleicher Weise produziert das positive Recht Handlungslücken, die für Willkür geöffnet sind, nämlich im Rahmen der Gesetze tun und lassen zu dürfen, was man will (vgl. [16], S. 348ff.). Neben dieser nur mit moralischen Pflichten auszufüllenden Lücke bleiben entscheidungstheoretische Lücken. Diese bestehen zum einen aus sehr unzureichenden Kenntnissen über die tatsächlichen Konsequenzen unserer medizinischen Handlungen außerhalb hochselektierter Studienpopulationen, die noch dazu häufig ebenfalls methodisch und inhaltlich strittige Ergebnisse liefern. Die Entscheidungstheorie verlangt zur Generierung rationaler Präferenzen jedoch eine Wahl zwischen Alternativen, die alleine von den jeweiligen Konsequenzen abhängt ([17], S. 7). Zum zweiten sind Mehrheitsregeln häufig inkonsistent ([15], S. 120). Wenn A mehr Stimmen als B hat und B mehr Stimmen als C, so kann im direkten Vergleich auch C mehr Stimmen als A bekommen, was logischer Unsinn ist, aber in tatsächlichen demokratischen Wahlen vorkommt. Diese und andere entscheidungstheoretische Lücken führen zum sogenannten Allgemeinen Möglichkeitstheorem, das besagt, dass es „kein Verfahren gesellschaftlicher Entscheidungen gibt, das alle Bedingungen erfüllt, die von Entscheidungen eine vernünftige Sensibilität für die Wünsche der Mitglieder einer Gesellschaft verlangen.“ ([15], S. 120). Für Sen sind Informationen über interpersonelle Vergleiche von Wohlergehen und relativen Vorteilen der Weg zum Erfolg. Es geht immer um konkrete Ungerechtigkeiten, nie um eine transzendentale Gerechtigkeit, die mich als Arzt aus der Not der Entscheidung entlassen könnte.

Aufgrund der notwendigen Rationierung innerhalb des Gesundheitswesens ist deshalb für eine offene Priorisierung das Wort zu reden, die unterschiedliche Präferenzen, unterschiedliche Partizipationsmöglichkeiten, vor allem konkrete Ungerechtigkeiten für ein Leben in Wohlergehen zunächst uns alle wahrnehmen und demokratisch diskutieren lässt und uns erlaubt, ausreichend flexibel in moralischer Verantwortung unter Wahrung des positiven Rechtes zu handeln.


Die Allokation der stets zu knappen Ressourcen im Gesundheitswesen aus volkswirtschaftlicher Sicht (Prof. Dr. Klaus-Dirk Henke, Fachgebiet Finanzwissenschaft und Gesundheitsökonomie, Technische Universität Berlin)

Der Vortrag wird hier durch die Wiedergabe einer gleichnamigen Publikation [18] (mit freundlicher Genehmigung des Verlags) des Referenten repräsentiert.

Die Einschätzung des Gesundheitswesens hat sich in Wissenschaft, Fachwelt, Politik und in der Öffentlichkeit in den letzten Jahren stark verändert. Es ist zu einem Bewusstseinswandel gekommen, der in verschiedenen Ländern zu unterschiedlichen Zeitpunkten stattgefunden hat oder noch stattfindet. Gemeint ist nicht nur der Wechsel von der einseitigen Kostendämpfungsdiskussion hin zu mehr Ergebnisbetrachtung in Form der Vermeidung von Krankheiten, Invalidität und Tod oder von der alleinigen Orientierung an der Beitragssatzstabilität hin zur Forderung nach mehr Prävention, Gesundheitsförderung und Qualität in der Krankenversorgung und gesundheitlichen Betreuung der Bevölkerung. Gedacht ist aus der Sicht der Ökonomie auch daran, dass sich das Gesundheitswesen als ein personalintensiver und expandierender Wirtschaftszweig entwickelt hat. Dementsprechend lassen sich steigende Ausgaben für die Erhaltung, Förderung und Wiederherstellung der Gesundheit durchaus positiv bzw. als Wohlfahrtsgewinn für die Gesellschaft ansehen. Zugleich wird die Gesundheit neben der Bildung zum zweiten Faktor des Humanvermögens und damit eine Größe, die das Wachstum und die Produktivität einer Volkswirtschaft nachhaltig fördert (siehe hierzu [19], S. 15ff.). Noch weiter geht der Public Health-Ansatz; dort wird von „Health in all Policies“ nicht nur gesprochen, sondern auch die Gesundheitsgesellschaft propagiert. Die Gesundheitswirksamkeit allen menschlichen Handelns rückt damit mehr und mehr in den Mittelpunkt bei der Allokation der Ressourcen für das Gesundheitswesen (siehe [20]). Vor diesem Hintergrund soll das Gesundheitswesen aus funktionaler Sicht in einer Fünf-Ebenen-Betrachtung zeit- und raumunabhängig gezeigt werden. Mit Hilfe dieser Sichtweise wird die Allokation der stets zu knappen Ressourcen aus einer volkswirtschaftlichen Makro-Perspektive und aus einer individuellen Mikro-Perspektive erläutert (siehe hierzu ausführlicher [21]).

1. Die Allokation der Ressourcen: eine funktionale Perspektive

Bei der Verwendung der volkswirtschaftlichen Ressourcen stehen bei globaler Betrachtung auf der obersten Ebene (1) konkurrierende Verwendungszwecke im Vordergrund. So muss in jeder Gesellschaft über Prioritäten explizit oder implizit entschieden werden. Maßnahmen zum Klimaschutz, Ausgaben für Bildung und Forschung, die Sicherung der Alterseinkünfte, oder die familienpolitischen Aktivitäten stehen als Opportunitätskosten in einem anderen Bereich den Gesundheitsausgaben gegenüber. Oft ist auch nicht klar, ob bestimmte Versorgungsziele anstelle von Gesundheitsausgaben nicht besser in anderen Sektoren, z.B. im Bildungs- oder Umweltbereich, verwirklicht werden können.

Bei dieser Betrachtung „von oben nach unten“ kommt es im Rahmen der politischen Willensbildung, aufgrund marktwirtschaftlicher Prozesse, durch die Kräfte in der sozialen Selbstverwaltung, durch die Einflüsse der Bürokratie oder der Verbände zur Allokation der gesamten Mittel bzw. Ressourcen, die für das Gesundheitswesen eines Landes und damit auch in der Gesundheitswirtschaft zur Verfügung gestellt werden.

Unabhängig davon wie der Gesundheitsbereich, das Gesundheitswesen oder die Gesundheitswirtschaft real oder monetär erfasst und gemessen wird, ausgabenseitig oder über die Höhe der Beiträge – es gibt keine wissenschaftlich ableitbare optimale Gesundheitsquote. Ob ein Land viel oder wenig für die Krankenversorgung, Prävention und Gesundheitsförderung ausgeben sollte, lässt sich theoretisch nicht in praktikabler Form ableiten. Weder die Gesundheitsquote insgesamt noch unterschiedliche Subquoten, z.B. Ausgabenquoten für Präventionsleistungen oder für die kurative Medizin, lassen sich wissenschaftlich und quantitativ exakt bestimmen. Vielmehr entscheiden die zahlreichen Akteure mit ihren unterschiedlichen Interessen und andere treibende Kräfte, z.B. die Medien oder auch Wahltermine, über Inhalte und Strukturen gesundheitspolitischer Veränderungen.

Auch innerhalb des Gesundheitswesens konkurrieren auf der zweiten Ebene die knappen Mittel in so unterschiedlichen Sektoren wie Prävention und Gesundheitsförderung, wie kurativer und Notfallbehandlung, wie Rehabilitation, Pflege und Palliativmedizin oder auch mit den Mitteln für die Zahnbehandlung oder die Lohnfortzahlung. Auf dieser Ebene (2) werden die Opportunitätskosten als Zielkonflikte wiederum deutlich, wobei erschwerend hinzutritt, dass z.B. mehr Prävention auch in den Lebensbereichen der ersten Ebene angestrebt werden kann und nicht nur innerhalb des Gesundheitswesens in der in der Abbildung 1 [Abb. 1] vorgegebenen Form und Einteilung.

Trotz all der Schwierigkeiten einer rationalen Allokation bzw. einer zielorientierten Verwendung der Mittel lässt sich zumindest aus theoretischer Sicht die Forderung aufstellen, dass zusätzliche Ressourcen immer dorthin fließen sollten, wo sie den größten Nutzen stiften. Und für den Fall von Einsparungen sind diese dort umzusetzen, wo das Ausmaß der Verschwendung am höchsten ist.

Mangelnde Effizienz ist unethisch, da die Mittel anderswo einen höheren Nutzen, z.B. in Form von gerettetem Leben, bewirken können. Folgt man der wohlfahrtstheoretischen Sichtweise, so sind die Mittel so lange umzustrukturieren, bis sie in allen Verwendungsformen den gleichen Nutzen hervorrufen. Das gilt innerhalb des Gesundheitswesens, aber auch zwischen dem Gesundheitsbereich und anderen Lebensbereichen.

Diese vergleichende Sichtweise auf den ersten beiden Ebenen ist vor allem von heuristischem Wert, nicht aber oder jedenfalls nur in Ausnahmefällen Grundlage für praktisches Handeln. Im Rahmen dieser Perspektive stellt sich allerdings immer wieder die Frage nach den Mechanismen einer angestrebten optimalen Allokation der Ressourcen. Mehr Planung und mehr Wettbewerb, mehr Markt oder Staat geraten dann oft in eine falsch verstandene Dichotomie, denn die Stärkung der Marktkräfte erfordert einen „starken (Ordnungs-)Staat“ und mehr Wettbewerb ist natürlich nicht gleich bedeutend mit dem Laisser-faire-Prinzip. Oder noch deutlicher durch das Bundesverfassungsgericht formuliert: „Menschenwürde ist keine ökonomische Kategorie“, und wenn im Gesundheitswesen nur noch in Marktkategorien gedacht wird (wohlgemerkt Markt ist nicht gleich Ökonomie), dann entsteht in einer Art Umkehrung Max Webers eine ökonomistisch verarmte Theologie aus dem Geiste des Kapitalismus, die Entscheidungen über Leben und Tod danach präformiert, „was man sich leisten kann“ (entnommen aus und zitiert nach [22], S. 53f.).

Kehrt man zurück in Abbildung 1 [Abb. 1] und wählt im Rahmen der zugrundeliegenden funktionalen Betrachtungsweise die Perspektive von „unten nach oben“ und beginnt auf den Ebenen 5 und 4 mit der Bevölkerung als Ausgangspunkt, so ergibt sich die Frage nach Art und Umfang des Krankenversicherungsschutzes bzw. den unterschiedlichen Formen der Absicherung des Krankheitsrisikos. Gleichzeitig fallen aber auch Ausgaben im Rahmen der persönlichen Lebensführung an, die nicht von der Krankenkasse erstattet werden und insofern zu den in diesem Bereich zunehmenden Konsumausgaben zählen. Im letzteren Fall (Ebene 3) wird auch vom so genannten Zweiten Gesundheitsmarkt gesprochen (so z.B. [23]).

Im Vordergrund der dritten Ebene stehen jedoch nicht die Konsumausgaben, sondern die Krankenversorgung der Bevölkerung vor dem Hintergrund der vielfältigen Krankheitsbilder, die in Abbildung 1 [Abb. 1] exemplarisch anhand des International Code of Diseases gewählt worden sind. Gezeigt werden soll wiederum, dass auch bei dieser Sichtweise die knappen Mittel unterschiedlich eingesetzt werden können. Welche Krankheiten im Vordergrund des medizinischen Versorgungsgeschehens treten, ist von vielen Faktoren abhängig und wohl auch unterschiedlich zwischen den Ländern. Wiederum sind es vielfältige Bestimmungsfaktoren, die angesichts der vielfältigen Zielkonflikte zu einer expliziten und impliziten Prioritätensetzung führen. Selbstverständlich lassen sich auch auf dieser Ebene (3) der Betrachtung andere Einteilungen als die nach den erstattungsfähigen Gesundheitsleistungen und dem zweiten Gesundheitsmarkt wählen, z.B. nach Altersgruppen und Geschlecht, nach chronischen und Akutkrankheiten, nach Alterskrankheiten oder nach Versorgungslücken und Problemgruppen.

Auch bei der „bottom-up“ Perspektive lassen sich also wiederum die konkurrierenden Verwendungszwecke und Zielkonflikte erkennen, und auch hier stellt sich die Frage nach den treibenden Kräften gesundheitspolitischer Veränderungen. Die historische Pfadabhängigkeit ist in verschiedenen Ländern unterschiedlich hoch. So werden in Deutschland die Mittel bisher nicht danach eingesetzt, „wo am meisten Lebensjahre“ gerettet werden können. Anders sieht die Situation allerdings in England aus, wo bei einem Kostenlimit pro gewonnenem Lebensjahr in bestimmten Fällen eine Behandlung nicht mehr stattfindet (siehe hierzu [24] und [25]).

2. Die Allokation der Ressourcen: eine institutionelle Perspektive

Neben dieser Art einer weitgehend zeitlosen und raumunabhängigen funktionalen Betrachtung der Allokation der knappen Ressourcen tritt eine stärker institutionelle Sichtweise, die naturgemäß von Land zu Land sehr unterschiedlich ausfallen kann. Häufig werden die nationalen Ausgabenträger einander gegenübergestellt, z.B. nach den verschiedenen Zweigen einer gesetzlichen Sozialversicherung, der privaten Versicherung oder nach den Einzelbudgets in steuerfinanzierten Systemen der sozialen Sicherung. Den so genannten Bismarck-Systemen mit einer vom öffentlichen Haushalt weitgehend getrennten Sozialversicherung stehen die so genannten Beveridge-Systeme mit ihrer steuerfinanzierten Absicherung der sozialen Sicherung gegenüber. Weiterhin könnte auch zwischen Ländern mit einem verschiedenen Entwicklungsstand und ihren jeweiligen institutionellen Gegebenheiten unterschieden werden (siehe hierzu [26]).

Beispielhaft seien in der Abbildung 2 [Abb. 2] die Gesundheitsausgaben in Deutschland nach Ausgabenträgern in Mrd. Euro für das Jahr 2006 herausgegriffen. Dort werden die vom Statistischen Bundesamt erfassten acht Ausgabenträger zusammengestellt, wobei deutlich wird, dass die Gesetzliche Krankenversicherung zwar ein wichtiger aber bei weitem nicht der alleinige Träger der Gesundheitsausgaben ist. In der gesundheitspolitischen Diskussion wird oftmals nicht recht deutlich, über welchen Teil der Gesundheitsausgaben angesichts der Ausgabenträger in Abbildung 2 [Abb. 2] gesprochen wird.

Im Zeitablauf kann gezeigt werden, dass sich die gesamten Gesundheitsausgaben oder auch nur die Ausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung als Anteil am Bruttoinlandsprodukt zwischen 1992 und 2006 nur moderat erhöht haben; von einer Kostenexplosion kann in diesem Zeitraum daher nicht die Rede sein (siehe [27]).

3. Die Finanzierung und Vergütung bei der Allokation der Ressourcen

Aus Abbildung 2 [Abb. 2] lassen sich aus dem unteren Teil bereits einige Finanzierungsformen entnehmen. Die verschiedenen Zweige der Sozialversicherung werden über Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge finanziert, während sich die private Krankenversicherung über Prämien, ermittelt nach Alter, Geschlecht sowie Art und Ausmaß der Vorerkrankung, finanziert. Steuern spielen bislang nur am Rande eine Rolle, z.B. in der Krankenhausfinanzierung, die überwiegend in den Händen der Bundesländer liegt. Die Lohnfortzahlung läuft über die Arbeitgeber und zählt zu den sogenannten Lohnnebenkosten. An Bedeutung gewinnen die verschiedenen Formen der Selbstbeteilung, die Zuzahlungen und die privaten Ausgaben, z.B. für die individuellen Gesundheitsleistungen in der ambulant-ärztlichen Versorgung, in Apotheken oder Optikergeschäften.

Finanzierung und Vergütung werden oft einander gegenübergestellt, da die Mittelaufbringung und die Mittelverwendung im Gesundheitswesen voneinander getrennt werden können. Die allgemeinen Deckungsmittel (d.h. überwiegend Steuern), die Sozialversicherungsbeiträge, risiko- oder nicht risikoorientierte Prämien, Zuzahlungen sowie individuelle Konsumausgaben gehören zu den Mitteln, die zwar in die Gesundheitswirtschaft fließen (siehe Abbildung 2 [Abb. 2]), dort dann jedoch bei der Bezahlung von den erbrachten Gesundheitsleistungen unterschiedlich eingesetzt werden. So werden stationär erbrachte Leistungen mittels anderer Vergütungssysteme und -regeln bezahlt als ambulant-ärztliche Leistungen. Und Heilleistungen und Hilfsmittel werden nicht in der gleichen Form vergütet wie der Unfallrettungsdienst oder Präventionsangebote.

Aus diesen Unterschieden zwischen der Mittelaufbringung und der Mittelverwendung und den unterschiedlichen Eigenschaften einzelner Finanzierungs- und Vergütungssysteme ergeben sich unterschiedliche Anreize und Wirkungen. So weisen beispielsweise steuerfinanzierte im Vergleich zu beitragsfinanzierten Gesundheitssystemen aufgrund staatlicher Budgetvorgaben in der Regel einen geringeren Anteil von Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt auf, was sich oft auch in der unterschiedlichen Länge von Warteschlangen ausdrückt. Und ein Steuerzahler unterscheidet sich mit seinen Ansprüchen an den Staat von einem Beitragszahler, der einem Versicherungssystem als zahlendes Mitglied angehört. Patienten haben dementsprechend verschiedene Ansprüche und Rechte bei beitrags- und steuerfinanzierten Gesundheitsleistungen. Darüber hinaus sind die Anreizwirkungen von Vergütungssystemen (Einzelleistungsvergütung, Fallpauschalen etc.) relevant für die mengenmäßige Verbreitung von Gesundheitsgütern und -dienstleistungen. Sie beeinflussen damit die Größe und Struktur bestimmter Teilmärkte der Gesundheitswirtschaft (siehe hierzu auch [28], bes. S. 385ff.).

Neben diesen Anreizwirkungen fällt der Finanzierung und Vergütung von Gesundheitsleistungen auch eine Funktion im Rahmen der qualitativen Abgrenzung der Gesundheitswirtschaft zu. Private Ausgaben für Gesundheitsleistungen lassen sich trennen von denen, die durch Krankenversicherungen erstattet werden und insofern eher dem ersten Gesundheitsmarkt zugeordnet werden können. Aus wirtschaftspolitischer Sicht ist es jedoch sinnvoll, auch die wachsenden Bereiche außerhalb der erstattungsfähigen Leistungen zu erfassen, da von ihnen Auswirkungen für Beschäftigung und Produktivität der Volkswirtschaft ausgehen. Aus Tabelle 1 [Tab. 1] ergeben sich erste Hinweise auf die Größenordnungen dieses Zweiten Gesundheitsmarktes.

Schließlich spielen die Lohn- und Lohnnebenkosten eine unterschiedliche Rolle in den Beveridge-Systemen im Vergleich zu den Bismarcksystemen. Die Beitragssatzstabilität steht in Ländern mit Sozialversicherungen im Vordergrund und hat kein Pendant in den steuerfinanzierten Systemen, in denen die Mittelverwendung im Rahmen der finanzpolitischen Willensbildung jährlich neu erfolgt und sich in unterschiedlichen regionalen und sektoralen Budgets niederschlägt.

Fasst man die Finanzierungsströme für Deutschland überblicksartig zusammen, so ergibt sich die Abbildung 3 [Abb. 3], in der Zahlungen der öffentlichen Haushalte, der öffentlichen und privaten Arbeitgeber sowie der privaten Haushalte und privaten Organisationen ohne Erwerbscharakter gezeigt werden. Sie fließen als Geld-, Sach- und Einkommensleistungen durch die Zweige der sozialen Sicherung und auch z.T. direkt an die privaten Haushalte. Sie stehen am Ende als Empfänger von Zahlungen und Leistungen den Ausgabenträgern gegenüber.

4. Die Krankheitskosten

Die Ausgaben für Krankheiten lassen sich im Rahmen von Krankheitskostenrechnungen („cost-of-illness“-studies) auch den Krankheitsbildern zuordnen. Legt man, wie in Abbildung 1 [Abb. 1] auf Ebene 3, die Klassifikation nach dem International Code of Diseases (ICD) zugrunde, ergibt sich für die Jahre 2002 bis 2006 das in Tabelle 2 [Tab. 2] für ausgewählte Krankheiten wiedergegebene Bild. Auf die vier einbezogenen teuersten Krankheitsarten entfallen in allen drei Jahren jeweils mehr als 50 Prozent der tatsächlichen Ausgaben. Die Reihenfolge ändert sich ebenfalls im Zeitablauf nur geringfügig. – Andere Rangfolgen ergeben sich, wenn die teuersten Krankheiten z.B. nach verlorenen Erwerbstätigkeitsjahren, also den indirekten Kosten, bzw. dem Verlust an volkswirtschaftlicher Wertschöpfung geordnet werden. Dann stehen in denselben Jahren Verletzungen und Vergiftungen im Falle der Arbeitsunfähigkeit, der Invalidität und der vermeidbaren Mortalität an erster Stelle. Während die Krankheiten des Kreislaufsystems jeweils an die fünfte Stelle treten.

Ohne an dieser Stelle die Ergebnisse der Krankheitskostenrechnungen ausführlicher darzustellen und zu interpretieren, lässt sich anhand der Daten aus der Routineberichterstattung des Statistischen Bundesamts allerdings fragen, ob wir möglicherweise am falschen Ende sparen, wenn im Rahmen der Kostendämpfung überwiegend die tatsächlichen Ausgaben im Vordergrund stehen und nur sehr selten der Verlust an volkswirtschaftlicher Wertschöpfung und Produktivität (siehe hierzu im Einzelnen [29]).

5. Der Gesundheitsfonds: die neuen Finanzströme

Berücksichtigt werden müssen schließlich bei der Allokation der stets zu knappen Ressourcen auch gesundheitspolitische Besonderheiten, die sich aus der Einrichtung des Gesundheitsfonds am 1. Januar 2009 ergeben, wenn also zu den politisch festgelegten Beitragssätzen noch ein Bundeszuschuss und kassenspezifische Zusatzbeträge treten und die Mittel im Rahmen des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs an die Krankenkassen verteilt werden. Nach Erhalt der zugewiesenen Einnahmen kommt es dann zur Vergütung der erbrachten Gesundheitsleistungen in Kollektivverträgen über die Kassenärztlichen Vereinigungen und/oder direkt in Form von Individualverträgen über die gesetzlichen Krankenkassen (Abbildung 4 [Abb. 4]).

Aus der Sicht der Versicherten ergibt sich in den nächsten Jahren neben der Grundversorgung mit Zuzahlungen und Rückerstattung möglicherweise ein differenzierteres Angebot an Versorgungsformen als es Ende 2008 der Fall war. Der zunehmende Wettbewerb spielt sich nicht mehr wie bisher vorwiegend auf der Finanzierungsseite über die Höhe der kassenartenspezifischen Beitragssätze ab, sondern stärker auf der Ausgaben- bzw. Leistungsseite mit geldwerten Vorteilen im Leistungsgeschehen (siehe zu allen Facetten des Fonds im Einzelnen [30]). Dabei spielt insbesondere die Qualität als Wettbewerbsparameter eine zunehmende Rolle.

6. Die Allokation in ausgewählten Wettbewerbsfeldern

Diese neue Situation mit der Einführung des Gesundheitsfonds lässt sich mit Hilfe der Wettbewerbsfelder (Teilmärkte) des Gesundheitswesens in Abbildung 5 [Abb. 5] untermauern. Dort werden die Märkte für Versicherungsverträge (1), die Märkte für Gesundheitsleistungen (2), die Märkte für Versorgungsverträge (3) und die Beschaffungsmärkte für Gesundheitsvorleistungen (4) überblicksartig unterschieden.

Aus der Sicht der Bevölkerung, also der Versicherten und der Patienten, ergeben sich zunächst zwei Perspektiven. Zum einen gilt es, den richtigen Versicherungsvertrag abzuschließen bzw. durch einen Wechsel zu verbessern. Die neue Dualität zwischen der privaten und gesetzlichen Krankenversicherung ist hier ab 1. Januar 2009 zu berücksichtigen (siehe hierzu im Einzelnen [31]). Zum anderen geht es um die im Vordergrund stehenden Gesundheitsleistungen im Falle einer Erkrankung bzw. beim Auftreten von Symptomen. Während früher im Arzt-Patienten-Verhältnis nur Sachleistungen zur Verfügung gestellt wurden, haben sich mit der Einführung von Praxisgebühren auch die so genannten IGeL-Leistungen ergeben, die der niedergelassene Arzt direkt beim Patienten abrechnen kann (siehe hierzu im Einzelnen den WIdOmonitor – Eine Versichertenbefragung zur Gesundheitsversorgung, unter http://www.wido.de/ und die dort enthaltenen Ergebnisse einer Repräsentativbefragung bei Versicherten zu den IGeL-Leistungen).

Im Zentrum der unterschiedenen Wettbewerbsfelder stehen allerdings die Versorgungsverträge zwischen den gut 200 gesetzlichen Krankenversicherungen und den Leistungsanbietern, zu denen vor allem Ärzte und Krankenhäuser zählen, aber auch zunehmend die Hersteller von Arzneimitteln, Medizinische Versorgungszentren, Medizinproduktehersteller und andere Träger neuer Versorgungsformen. Die Vertragslandschaft ist hier für den Außenstehenden unübersichtlich geworden, da sowohl Kollektivverträge über die Kassenärztlichen Vereinigungen als auch Individual- bzw. Selektivverträge ohne ihre Einbeziehung abgeschlossen werden können.

Zu dem Bereich der Versorgungsverträge (3) hat der Versicherte noch wenig direkten Zugang bzw. kann im Rahmen seines Versicherungsschutzes die möglichen Versorgungsformen nur bedingt wählen. Auch den privaten Krankenversicherungen fehlt bisher der direkte Zugang zu den Leistungsanbietern, sieht man einmal von den Sana-Kliniken, die einer größeren Zahl von privaten Krankenkassen gehören, als Spezialfall ab.

7. Fazit

Der Beitrag zeigt die komplexe Vielfalt in der Allokation der Ressourcen im Gesundheitswesen. Es geht nicht nur um die unterschiedenen Ebenen der Allokation im Gesundheitswesen aus zwei Perspektiven, sondern auch um die vielfältigen Wege der Finanzierung und Vergütung von Gesundheitsleistungen, die sich durch den Gesundheitsfonds noch einmal verändert haben. Im Zentrum der zukünftigen Entwicklung stehen aller Voraussicht die verschiedenen Wettbewerbsfelder mit den dazugehörigen ausgewählten Gesundheitsmärkten. Möglicherweise gewinnt auch eine stärkere Orientierung an den indirekten Kosten und nicht nur an den tatsächlichen Ausgaben an Bedeutung.

Alles in allem geht es in absehbarer Zukunft um die Weiterentwicklung eines bewährten Versorgungssystems, in dem die nachhaltige Finanzierung angesichts der demographischen Herausforderungen von besonderer Bedeutung sein wird (siehe hierzu z.B. [32]). Gleichzeitig tritt die Gesundheitswirtschaft mehr und mehr als ein an Bedeutung gewinnender Wirtschaftsfaktor in den Vordergrund. Das Humankapital, also Bildung und Gesundheit, wird zu einem der wichtigen Bestimmungsfaktoren volkswirtschaftlichen Wachstums. In einer Gesundheitsgesellschaft treten Nebenbedingungen wie Beitragssatzstabilität und Kostendämpfung um jeden Preis in den Hintergrund (siehe in diesem Zusammenhang auch [33]). Dennoch gehören Finanzierungsengpässe in einer Volkswirtschaft zum Alltag eines jeden Wirtschaftssektors. Aus der Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2008/2009 könnte die Gesundheitswirtschaft allerdings gestärkt hervortreten, da in ihr die Binnenkräfte und die Personalintensität stärker als in anderen Sektoren im Vordergrund stehen.


Priorisierung und die deutsche Vergangenheit – Warum die Priorisierungsdebatte so heikel ist (Prof. Dr. Weyma Lübbe, Lehrstuhl für Praktische Philosophie, Universität Regensburg)

Der Vortrag wird hier durch die Wiedergabe der Publikation „Medizinische Ressourcenallokation und die Produktivität der Volkswirtschaft“ [34] (mit freundlicher Genehmigung des Verlags) der Referentin repräsentiert.

1. „Da muss man dann ja selektieren“

Die Fragen der Allokation knapper Ressourcen im Gesundheitswesen sind in Deutschland ganz überwiegend noch eine Spielwiese der Akademiker. Während andere Länder dazu schon seit Jahrzehnten beraten und beschließen, ist das in Deutschland nicht der Fall. „Rationierung“ ist bei uns ein politisches Tabuwort. Den vom Präsidenten der Bundesärztekammer Hoppe im Frühjahr 2009 in die öffentliche Diskussion eingebrachten Euphemismus „Priorisierung“ hat umgehend dasselbe Schicksal ereilt. Auch zu diesem Stichwort ist über die Parteiengrenzen hinweg von Politikern nur zu hören, das sei „unethisch“.

Das besondere Ausmaß der deutschen Empfindlichkeit gegen dieses Thema ist vermutlich eine Folge seiner Verbindbarkeit mit dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte. Eine Anekdote mag das erhellen. Im Deutschen Ethikrat gibt es eine Arbeitsgruppe zur Ressourcenallokation im Gesundheitswesen. Im Mittelpunkt ihres Interesses stehen derzeit Rolle und ethischer Status gesundheitsökonomischer Evaluationen. Konkreter Anknüpfungspunkt für die Beschäftigung mit diesem Thema war die im Jahr 2007 in das Recht der Gesetzlichen Krankenversicherung eingeführte Kosten-Nutzen-Bewertung für Arzneimittel sowie bestimmte Kontroversen, die sich an die Umsetzung der einschlägigen Paragraphen angeschlossen haben. Bei einem so genannten Parlamentarischen Abend berichtete der Ethikrat den anwesenden Parlamentariern unter anderem über seine laufenden Arbeitsgruppen. Zur Ressourcenallokation kam dann eine Frage. Eine Abgeordnete sagte: „Ich hoffe für Sie, dass Sie sich nicht mit dem Thema ‚Rationierung’ befassen müssen. Denn da muss man dann ja selektieren.“ Stille – es war klar, in welche Richtung jeder dachte, wie vage auch immer. Die Rampe in Auschwitz, das „Euthanasie“-Programm, das lebensunwerte Leben, das zu bewahren sich gesellschaftlich nicht mehr lohnt. Politiker, Bürger, speziell auch Menschen, die im Gesundheitswesen beruflich tätig sind, wollen von Entscheidungen, die mit diesen Dingen wie entfernt auch immer zu tun zu haben scheinen, nichts wissen.

Die nirgends ausdrücklich gestellte und daher auch nirgends beantwortete Frage lautet: Was hat es denn miteinander zu tun? Wahrscheinlich wäre es hilfreich für die Priorisierungsdebatte, sich mit diesem Thema einmal gründlicher zu befassen, denn subkutan ist es ohnehin präsent. Der vorliegende Beitrag soll dazu einen Anstoß geben. Wichtig ist dabei, nicht dem Missverständnis zu erliegen, die Gefährlichkeit nationalsozialistischen Gedankenguts erschöpfe sich in der Gefährlichkeit des Rassismus. Zwar war Auschwitz rassistisch motiviert, aber die Rampe in Auschwitz war es nicht. Dort wurde nach Arbeitsfähigkeit sortiert. Auch die Aktion T 4 („Euthanasie“-Programm) war nicht rassistisch motiviert. Auch hier ging es um Produktivität, teils um Arbeitsproduktivität, teils um die unterstellte Unfähigkeit zur Zeugung produktiven Nachwuchses. Ein Historiker formuliert es so: „Dabei wird offensichtlich, dass nicht nur die rassistische Kategorisierung über das Schicksal von Millionen Menschen entschied, sondern auch Nützlichkeitserwägungen. Arbeitsunfähige bzw. Menschen, denen kein ökonomischer Wert zugemessen wurde, verloren rasch die Existenzberechtigung“ ([35], S. 83).

Ich meine, um es vorweg zu nehmen, dass es möglich ist, die Priorisierungsdebatte in einer Form zu führen, die sich keine Verwandtschaft mit gefährlichem Gedankengut vorwerfen lassen muss. Dazu ist es nötig, Priorisierungsentscheidungen konsequent nicht als Entscheidungen aufzufassen, in denen über den mehr oder weniger großen gesellschaftlichen Wert der Gesundung dieser oder jener Patientengruppen befunden würde. Die folgenden Abschnitte sollen zeigen, dass eine solche Auffassung von Priorisierungsentscheidungen in der akademischen Diskussion tatsächlich eine Rolle spielt und namentlich gesundheitsökonomischen Ansätzen zur Ressourcenallokation nicht fremd ist. Nur bei klarer Abgrenzung gegenüber den heiklen Implikationen einer solchen Deutung von Priorisierungsurteilen wird das Thema in Deutschland politisch und auch rechtlich auf Akzeptanz stoßen können.

2. Effiziente Allokation und der Wert einer Person für andere

„Die meisten Leute meinen (und unsere Gesetze bestehen selbstverständlich darauf), dass alle Menschen ein gleiches Recht auf Leben haben und dass der Mord an einem depressiven behinderten achtzigjährigen Misanthropen genauso hinterhältig ist und genauso unerbittlich geahndet werden muss wie der Mord an einem Jüngeren, Gesünderen oder für andere Menschen Wichtigeren. Jede andere Einstellung käme uns monströs vor“ ([36], S. 124).

Dieses Zitat stammt von dem Juristen und Rechtsphilosophen Ronald Dworkin. Anders als in der Medizin geht es darin nicht um die Bewahrung vor dem Tode, sondern um die Beförderung zu demselben – um eine Tötungshandlung. Aber das gleiche Recht auf Leben, von dem hier die Rede ist, pflegt für die Leistungserbringung im öffentlichen Gesundheitswesen ebenfalls bejaht zu werden. Im Zitat wird mit Berufung auf dieses Recht eine Differenzierung nach Lebenswert abgelehnt. Aber es zeigt immerhin, welche Bewertungskategorien in den Sinn kommen, wenn man Lebenswerturteile fällen wollte oder dürfte: Jugend, Gesundheit resp. Nichtbehindertsein, Wert für andere.

Nun ein zweites Zitat. Es stammt aus einem in Deutschland verbreiteten Lehrbuch für gesundheitsökonomische Evaluationen und bezieht sich auf die Mittelallokation im öffentlichen Gesundheitswesen: „Bei strenger Anwendung der Maßstäbe für eine effiziente Allokation müssen arbeitende Personen umso mehr bevorzugt werden, je höher ihr Einkommen ist“ ([37], S. 56). Basis dieses Urteils ist die Berücksichtigung von Produktivitätsverlusten, den so genannten indirekten Kosten, zusätzlich zu den direkten Kosten (das sind die Ausgaben für die medizinische Versorgung). Je schneller und vollständiger man Patienten wieder gesund macht, desto weniger von ihrer Arbeitskraft entgeht der Volkswirtschaft – vorausgesetzt, sie hatten Arbeit, genauer Arbeitseinkommen, also Arbeit, deren Wert über das Bestehen einer Zahlungsbereitschaft nachgewiesen ist. Bei Personen ohne nachgewiesene Produktivität – konkret im Text genannt werden unter anderem Arbeitslose, Rentner und Hausfrauen – kommen solche Kosten im Krankheitsfall überhaupt nicht in Betracht, weshalb es den genannten Maßstäben zufolge besonders ineffizient wäre, sie gleichrangig zu versorgen.

Der Autor der zitierten Passage – Wolfgang Greiner, derzeit Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen – spricht im Anschluss an das Zitat die heikle Natur solcher Überlegungen selbst an. Er schreibt: „Diese Besserstellung infolge der relativen Einkommenssituation ist allerdings kaum mit dem in der Gesundheitspolitik postulierten Grundsatz des für jeden Bürger gleichen Zugangs zu Gesundheitsleistungen zu vereinbaren“ ([37], S. 56). Der weitere Text lässt offen, ob der Autor das Postulat teilt oder nicht. Wer es teilt, der könnte es unterlassen, die indirekten Kosten einzubeziehen, oder er könnte Durchschnittseinkommen ansetzen, auch bei Krankheiten, die nur Frauen oder überwiegend Rentner treffen. Eben dies ist es offenbar, was in der Praxis zumeist geschieht. Das ist beruhigend, wenn auch nur halb, da Greiner mitteilt, der Grund dafür sei Datenmangel ([37], S. 57).

Die Frage bleibt: Was sind das für Maßstäbe, deren konsequente Anwendung bei der Verteilung knapper medizinischer Ressourcen die Rücksicht auf den Wert verlangt, den die Gesundung eines Patienten für andere hat? Auf welchen Grundsätzen oder Postulaten beruht das seinerseits? Es beruht auf der Idee, dass die Kosten krankheitsbedingter Produktionsausfälle ja tatsächlich anfallen. Die Gesellschaft muss sie wirklich tragen. Daher müsse es grundsätzlich ebenso legitim sein, sie einzubeziehen, wie es legitim sei, die direkten Kosten einzubeziehen. Was, von Messproblemen abgesehen, könnte eine öffentliche Instanz vernünftigerweise veranlassen, einige Kosten einzuberechnen und andere nicht?

Eine mögliche Antwort ist diese: Die Ziele der jeweiligen Einrichtung geben dazu Anlass – der Einrichtung, um deren Gelder es bei dem anstehenden Verteilungsproblem geht. Konkret also etwa die Ziele der Gesetzlichen Krankenversicherung. Über diese Ziele kann man nun aber ebenfalls unterschiedlicher Meinung sein. Ich belege das mit zwei Zitaten aus dem Kontext der anfangs erwähnten Kontroversen, die sich an die Einführung der Kosten-Nutzen-Bewertung in das Recht der Gesetzlichen Krankenversicherung angeschlossen haben. Die Wahl der Perspektive bei der Kostenbetrachtung war dort nämlich einer der Streitpunkte. Ein ökonomischer Gutachter begründete die Wahl der weiten Perspektive, die auch die Produktivitätsverluste einschließt, mit dem Hinweis, dass die Kassen „als Körperschaften des öffentlichen Rechts dem öffentlichen Auftrag und dem öffentlichen, d.h. gesamtgesellschaftlichen Interesse verpflichtet“ seien [38]. Anderer Meinung war unter anderem das Bundesgesundheitsministerium. Es teilte mit: „Aufgabenstellung der Gesetzlichen Krankenversicherung […] ist die Bereitstellung medizinischer Leistungen für ihre Versicherten und nicht die Finanzierung von gesamtwirtschaftlichem Nutzen (§ 1 SGB V)“ [39].

Die Perspektive der Kostenbetrachtung war nicht der einzige Punkt, bei dem die rechtliche Vertretbarkeit der gesundheitsökonomischen Bewertungsstandards in Streit geriet. Tatsächlich sind die Kontroversen um die Ausgestaltung der Methoden der Kosten-Nutzen-Bewertung in der GKV vor allem deshalb so hartnäckig gewesen (man hat zwei Jahre lang gestritten, ohne sich zu einigen), weil der Gesetzgeber etwas sehr Ungeschicktes getan hat. Er hat verfügt, dass das zuständige Institut sich bei seiner Ausarbeitung der Bewertungsmethoden auf die in den Fachkreisen anerkannten Standards der Gesundheitsökonomie stützen soll (§ 35 b Abs. 1 S. 5, § 139 a Abs. 4 S. 1 SGB V) – ohne die Standards zu durchschauen und ohne sie auf ihre rechtliche Vertretbarkeit hin zu prüfen. Die betroffenen Fachkreise fanden verständlicherweise, sie müssten nun wohl gehört werden. Stattdessen hat das zuständige Institut, in dem ganz überwiegend keine Ökonomen, sondern Mediziner und Biometriker arbeiten, eine Methode der Kosten-Nutzen-Bewertung präsentiert, in der die Fachkreise ihre Standards nicht wieder erkannt haben. Das Institut berief sich dabei darauf, dass der sozialrechtliche Rahmen seiner Tätigkeit dies nicht anders gestatte.

Das Institut, von dem die Rede ist, ist das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, kurz IQWiG, ein formell unabhängiges wissenschaftliches Institut, das aus Geldern der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) finanziert wird und dem Gemeinsamen Bundesausschuss zuarbeitet. In die öffentliche Diskussion ist es vor allem durch eine Personalie gelangt. Dem Institutsleiter, einem bekannten Kritiker der Pharmaindustrie, wurde nach dem Regierungswechsel von 2009 die anstehende Verlängerung seines Vertrags verweigert und es gab Hinweise auf klientelpolitische Hintergründe. So gut wie keine medienöffentliche Aufmerksamkeit hat dagegen die Methodenkontroverse gefunden. Dazu ist sie auch zu kompliziert. Selbst die Beteiligten hatten Mühe, die Sache zu durchdringen. Am Hauptstreitpunkt, dem Streit über das indikationsübergreifende Bewerten, lässt sich das exemplifizieren (vgl. zum Folgenden auch [40]).

3. Wertmaximierung vs. Gleichachtung

Der gesundheitspolitische Hintergrund der Einführung der Kosten-Nutzen-Bewertung war die quantitativ erhebliche Bedeutung der so genannten Strukturkomponente – das sind die innovationsbedingten Kostensteigerungen – bei den Arzneimittelausgaben. Neuzulassungen auf dem Arzneimittelmarkt sind gewöhnlich patentgeschützt und daher trotz oft nur marginaler Nutzenzuwächse sehr teuer. Die Kosten-Nutzen-Bewertung sollte nach dem Willen des Gesetzgebers als Basis für die Festsetzung von Erstattungshöchstbeträgen insbesondere für solche Medikamente dienen.

Der Hauptstreitpunkt zwischen dem IQWiG und seinen Kritikern betraf nun die Frage, ob diese Bewertungen indikationsintern oder indikationsübergreifend erfolgen sollten. Im Beispiel: Soll es nur darum gehen, das Kosten-Nutzen-Verhältnis eines neuen Medikaments gegen Brustkrebs mit dem Kosten-Nutzen-Verhältnis des besten bislang verfügbaren Medikaments gegen Brustkrebs zu vergleichen und dann eine Empfehlung zum Erstattungshöchstbetrag für das neue Medikament abzugeben? Das ist es, was das IQWiG tun möchte. Oder soll das Kosten-Nutzen-Verhältnis eines Brustkrebsmedikaments an einem allgemeinen, indikationsübergreifend geltenden Schwellenwert der Kosteneffektivität gemessen werden, an dem dann ebenso zum Beispiel auch ein neues Herzinfarktmedikament zu messen wäre? Das ist es, was die Kritiker aus der Gesundheitsökonomie für richtig halten. In einem ihrer Stellungnahmepapiere zur Methodik des IQWiG heißt es dazu: „Wie viel Ressourcen die Versichertengemeinschaft bereit ist, in eine bestimmte Indikation zu lenken, kann nicht ausschließlich von den derzeit in dieser Indikation vorhandenen Therapiemöglichkeiten abhängen, sondern von der Frage, in welchen Indikationen die verwendeten Ressourcen den höchsten Nutzen stiften“ ([41], S. 2).

Das IQWiG hat dagegen eingewandt, dass dies auf Priorisierung hinauslaufen würde, auf die Etablierung von Rangordnungen der Behandlungswürdigkeit unterschiedlicher Krankheiten und damit auch Patientengruppen. Das könne es als wissenschaftliches Institut nicht leisten und dazu habe es vom Gesetzgeber auch kein Mandat. In einem der Papiere zur Kontroverse erläutert das Institut dies so: „Ein Vergleich über Krankheitsgrenzen hinweg würde unweigerlich eine Entscheidung erzwingen, ob es eine Krankheit im Vergleich zu einer anderen ‚wert’ ist, dass für betroffene Patienten eine Innovation überhaupt eingesetzt wird und wenn ja, zu welchen Kosten. […] Die vom IQWiG vorgeschlagene Methodik vermeidet solche Wertentscheidungen“ ([42], S. 13).

Zahlreiche Kritiker haben darauf entgegnet, es sei nicht richtig, dass die Methode des IQWiG solche Wertentscheidungen vermeide. Bei begrenztem Budget, so ihr Argument, hat jede Finanzierungsempfehlung Opportunitätskosten, ob man das will oder nicht. Es entgeht der Nutzen, den man mit dem Geld an anderer Stelle finanzieren könnte. Sobald das IQWiG mehr als eine Empfehlung abgebe – soviel Euro für soviel Zusatznutzen im Bereich Herzinfarkt, soviel Euro für soviel Zusatznutzen im Bereich Brustkrebs –, sehe man ja automatisch, wie viel die beiden Indikationsbereiche dem IQWiG wert seien. Revealed preferences – die Zahlungsbereitschaft (resp. Zahlungsempfehlung des IQWiG an den Entscheider, den Spitzenverband Bund der Krankenkassen) offenbare die Werturteile. Man sehe es jedenfalls dann, wenn das IQWiG, wie in der Gesundheitsökonomie üblich, den Nutzen mit einem indikationsneutralen Nutzenmaß messe, also so, dass die hinzugewonnene Gesundheit in allen Indikationsbereichen in derselben Messgröße angegeben wird. Wenn man das nicht mache, dann könne man zwar die Sichtbarkeit der Wertungen verhindern. Die Wertungen als solche könne man aber nicht verhindern.

Zum Unverständnis seiner Kritiker hat sich das IQWiG auch hier als unbelehrbar erwiesen. Es verwendet tatsächlich unvergleichbare Nutzenmaße. Dazu fiel den Kritikern nichts mehr ein. Offensichtlich hatten sie es mit einer irrationalen Einrichtung zu tun, einer Einrichtung, die aus lauter Angst vor dem notwendigen Übel, nämlich der Priorisierung, den Kopf in den Sand steckt, um nicht mit ansehen zu müssen, was sie tut.

Im Blick auf unsere Ausgangsfrage – von welcher Art sind die Werturteile, die man braucht, um zu priorisieren? – sind wir hier an einem entscheidenden Punkt angelangt. Im Dworkin-Zitat zu Beginn des zweiten Abschnitts war vom gleichen Recht auf Leben die Rede und davon, dass das Tötungsverbot gegenüber jedermann gleichermaßen gelte, alt oder jung, behindert oder nicht behindert, produktiv oder unproduktiv. Ausdruck der Haltung der Gleichachtung im öffentlichen Gesundheitswesen ist das gleiche Recht auf Zugang zu Gesundheitsleistungen, das auch Greiner als Postulat erwähnte. Nun scheint aber zwischen beidem ein wesentlicher Unterschied zu bestehen. Das Recht, nicht getötet zu werden, kann man ganz ungestört gegenüber jedermann in Geltung setzen, weil es hier kein Knappheitsproblem gibt. Jemanden nicht zu töten verbraucht keine Ressourcen. Beim Recht auf Zugang zu Gesundheitsleistungen ist das anders. Falls das Budget der GKV nicht unbegrenzt ist (und das ist es nicht, sonst bräuchte man auch keine Höchstbeträge), muss man irgendwie auswählen – selektieren also. Wer nicht alles für alle bezahlen kann, der, so scheint es, muss entscheiden, was wertvoller ist und was weniger wertvoll. Wenn das die Wahrheit ist, dann versteht man, dass Gesundheitsökonomen es leid sind, unangenehmer gedanklicher Verwandtschaft verdächtigt zu werden, wo sie doch lediglich die Überbringer unangenehmer Wahrheiten über ein notwendiges Übel sind.

Nach meiner Auffassung sind es aber keine Wahrheiten. Wer nicht alles für alle bezahlen kann, muss nicht entscheiden, was wertvoller ist. Ich erläutere das mit einem Beispiel aus dem Transplantationswesen. Hier ist die Knappheit unabweisbar, die Opportunitätskosten springen ins Auge. Die Leute sterben auf den Wartelisten. Wenn man einem Patienten eine Leber gibt, stirbt ein anderer, der sie auch hätte brauchen können. Und wenn man einem Patienten eine Leber und ein Herz gibt (manche Patienten brauchen beides), dann sterben zwei andere, einer, der mit dem Herz hätte überleben können, und einer, der die Leber hätte brauchen können. Die im Eurotransplant-Gebiet geltenden Regeln der Organverteilung setzen Patienten mit doppeltem Transplantatbedarf ebenso auf die Wartelisten wie Patienten mit einfachem Bedarf. Man transplantiert sie auch, wenn sie nach den Regeln dran sind. Warum tut man das? Wenn die oben referierte Logik richtig wäre – die Logik, der zufolge die Entscheidung zum Ressourceneinsatz offenbart, wie wertvoll im Urteil des Entscheiders das Resultat ist –, dann müsste man schließen, dass im Urteil der Konstrukteure des Organverteilungssystems das Überleben eines Patienten mit doppeltem Ressourcenbedarf doppelt so viel wert ist wie das Überleben jedes der beiden Patienten mit einfachem Bedarf, die man stattdessen hätte retten können.

Dies zu unterstellen ist natürlich absurd. Genau genommen ist die ganze Redeweise absurd. Eurotransplant vergibt Transplantate nicht an Patienten, weil ihr Überleben einen bestimmten Wert hätte. Man transplantiert Patienten, weil sie ein Recht auf Zugang zu Gesundheitsleistungen haben. Solche Rechte gibt es auch unter Knappheit – zum Beispiel das Recht, auf die Warteliste gesetzt zu werden, wenn eine Transplantation medizinisch indiziert ist. Wenn man das Verteilungsgeschehen in diese Kategorien fasst – in rechtstheoretische Kategorien anstatt in Kategorien der Wertproduktion –, dann hat es gar nichts Überraschendes und auch nichts Irrationales, dass auch Patienten mit doppeltem Transplantatbedarf versorgt werden. Wertmaximierend ist das nicht. Aber die Organverteilung, wie generell die Allokation knapper medizinischer Ressourcen, ist eben keine Übung in Wertmaximierung. Sie ist eine Übung in Gleichachtung. Entscheidungen öffentlicher Instanzen, die vom Amts wegen Rechte und unter diesen auch das Recht auf gleiche Achtung zu wahren haben, sind keine wertmaximierenden Entscheidungen. Sie sollen dies auch nicht sein. Sie offenbaren auch nicht, welche Resultate im Urteil des Entscheiders am wertvollsten sind. Sie offenbaren das Gleichachtungsverständnis des Entscheiders.

Gleichachtung ist eine Kategorie, die Gesundheitsökonomen überwiegend den Juristen, Ethikern oder auch Politikern zur Pflege überlassen haben – freilich ohne unterdessen auf das Ableiten von Empfehlungen aus den eigenen Fachstandards zu verzichten (kritisch dazu [43]). Dann muss man sich nicht wundern, wenn das Abgeschichtete in Politikberatungskontexten in Form des Widerstands gegen die Fachstandards wieder begegnet. Wenn der Gegenwind stärker wird, besinnt man sich auch darauf, dass das „Verteilungsproblem (Wer bekommt was?)“ und das „Allokationsproblem (Wie erreichen wir mit den knappen Mitteln das Beste?)“ gar nicht trennbar sind ([44], S. 158; vgl. auch S. 159): „Die Gesundheitsökonomie kann nur dann Bewertungen vornehmen, wenn Vorgaben zu den Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit bestehen“). In den USA werden, anders als bei uns, die nötigen interdisziplinären und politischen Debatten über diese Fragen schon länger geführt. Dort ist die Verwendung von Schwellenwerten der Kosteneffektivität – „dollars-per-quality adjusted life year (or similar measure [...])” – als Basis der Erstattungsempfehlungen für den öffentlichen Gesundheitssektor, die vom dortigen Patient-Centered Outcomes Research Institute erarbeitet werden, inzwischen gesetzlich verboten worden ([45], S. 623).


Podiumsdiskussion mit den Referenten

In einer von Prof. Dr. med. Stephan Sahm, Kettelerkrankenhaus, Offenbach, moderierten Podiumsdiskussion wurden unter Einbeziehung des Auditoriums die verschiedenen Aspekte des Themas vertiefend erörtert.


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