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Bewältigungsstrategien bei Multimorbidität – eine qualitative Analyse über den Umgang älterer Patienten mit multiplen chronischen Erkrankungen
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Published: | September 14, 2011 |
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Hintergrund: Die demografische Entwicklung unserer Gesellschaft führt bereits heute dazu, dass neben dem Anteil alter und sehr alter Menschen, auch die Zahl derer, die unter chronischen Erkrankungen und Multimorbidität leiden, stetig steigt. Die bisherige Forschung setzt sich jedoch vorrangig mit solitären chronischen Erkrankungen auseinander. Nur wenige Studien beschäftigen sich mit Multimorbidität. Dabei stellt Multimorbidität nicht nur für Hausärzte, sondern auch für Patienten eine besondere Herausforderung dar. Vor diesem Hintergrund stellen wir die Frage, welchen Einfluss Multimorbidität auf das Leben von älteren Patienten hat, wie sie mit den Konsequenzen von Multimorbidität umgehen und welche Bewältigungsstrategien sie verfolgen.
Material und Methoden: 2008/9 wurden mit neun Hausärzten in Hamburg und Düsseldorf sowie jeweils zwei ihrer multimorbiden Patienten narrative Interviews geführt. Dabei hatten die Interviewpartner Gelegenheit, alle bedeutsamen Aspekte ihrer Gesundheit und Erkrankungen zu thematisieren. Von den 19 Patienten waren 13 weiblich und 6 männlich. Das durchschnittliche Alter betrug 75 Jahre. Typische Erkrankungen der Patienten waren Herzinsuffizienz, Diabetes mellitus Typ 2, COPD, Arthrose und Depression. Die interviewten Patienten waren zu diesem Zeitpunkt zwischen 5 und 20 Jahre bei ihrem Hausarzt in Behandlung. Die Interviews wurden ton-aufgezeichnet, vollständig transkribiert und auf Grundlage der Grounded Theory kodiert und analysiert.
Ergebnisse: Die Ergebnisse der qualitativen Analyse zeigen, dass sich der Umgang mit Multimorbidität bei den befragten Patienten auf drei Ebenen abspielt. Auf der sozialen Ebene versuchen die Betroffenen ein sinnstiftendes Leben zu führen und aufrecht zu erhalten. Dies äußert sich v.a. in einem „can-do approach to life“: Patienten versuchen ihre Autonomie und damit verbunden ihre soziale Rolle zu bewahren. Dabei nehmen sie sich selbst nicht zwangsläufig als multimorbid wahr. Auf der emotionalen Ebene erleben die Befragten ein Wechselspiel aus Angst, Verzweiflung und Trauer, aber auch aus Kraft und Euphorie. Die Lebensqualität der Betroffenen wird dabei stark von der emotionalen Verarbeitung der Erkrankungen beeinflusst. Auf einer praktischen Ebene des Umgangs mit ihren Erkrankungen zeigt sich, dass sich viele Patienten sehr aktiv mit ihrer Behandlung und ihrer Medikation auseinandersetzen, dabei aber teilweise auch vergeblich versuchen, ihre Erkrankungen „unter Kontrolle zu halten“. Insgesamt zeigen die interviewten Patienten eine sehr viel weniger paternalistische Erwartungshaltung an ihre Hausärzte, als man es von dieser Altersgruppe erwarten würde.
Schlussfolgerung/Implikation: Der Wunsch multimorbider Patienten nach Autonomie kann durch den Hausarzt möglicherweise stärker als bisher positiv unterstützt werden. Allerdings brauchen diese Patienten dazu Raum, ihre vielfältigen Emotionen zu äußern und der Hausarzt ein Konzept, die sehr unterschiedlichen Ressourcen der Patienten zu identifizieren.