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19th Annual Meeting of the German Drug Utilisation Research Group (GAA)

Gesellschaft für Arzneimittelforschung und Arzneimittelepidemiologie

22.11. - 23.11.2012, Jena

Methodische Herangehensweisen zur Erfassung von Multimedikation in der Arzneimittel-Dauertherapie

Meeting Abstract

Gesellschaft für Arzneimittelanwendungsforschung und Arzneimittelepidemiologie e.V. (GAA). 19. Jahrestagung der Gesellschaft für Arzneimittelanwendungsforschung und Arzneimittelepidemiologie. Jena, 22.-23.11.2012. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2012. Doc12gaa14

doi: 10.3205/12gaa14, urn:nbn:de:0183-12gaa140

Published: November 14, 2012

© 2012 Bellmann et al.
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Text

Hintergrund: Multimedikation ist ein häufig feststellbares Phänomen in der Arzneimitteltherapie, das in letzter Zeit vermehrt Aufmerksamkeit erhalten hat [1]. Es betrifft nicht ausschließlich ältere medikamentös therapierte Menschen, tritt bei diesen krankheitsbedingt jedoch häufiger auf als bei Jüngeren [2].

Ziel der Untersuchung ist es, anhand von umfangreichen Sekundärdaten einer deutschen gesetzlichen Krankenversicherung: a) eine Methodik zur Erfassung von Chronizität in der Arzneitherapie zu bestimmen und b) darauf aufbauend das Ausmaß und den Umfang von Multimedikation mit solchen dauerhaft eingenommenen Arzneimitteln darzulegen.

Material und Methoden: 1) Literaturrecherche nach den Stichworten:

„Polypharmazie“, „Multimedikation“, „Arzneimittel“, „Multimorbidität“, „Komorbidität“, „Komedikation“, „Polypharmakotherapie“ und mittels der englischen Suchbegriffe „multiple medication(s)“, „polypharmacy“, „polypharmacotherapy“, „multidruguse“, „multimorbidity“, „comorbidity“ in den Datenbanksuchmaschinen: Medline® und Embase® über die Dienstleistungsanbieter DIMDI, PubMed© und GoogleTM (Google ScholarTM).

2) Sekundärdatenanalysen:

Datenbasis: Routinedaten der AOK Hessen (n = 1,485 Mio. Versicherte); Basispopulation: durchgängig versicherte Arzneimittelempfänger (n = 1,030 Mio. Versicherte); Studienpopulation: Arzneimittelempfänger mit Verordnungen ausschließlich aus öffentlichen Apotheken, ohne ATC: „D“ = Dermatika, „V“ = Varia, „J07“ = Impfstoffe: n = 993.044 Versicherte.

Definitionen:

  • Reichweite einer Arzneimittelverordnung: Bestimmung anhand der DDD (defined daily dose) mittels vier verschiedener Methoden: a) 1 DDD pro Kalendertag (M1), b) arithmetisches Mittel der rechnerischen pDD (prescribed daily dose) eines Wirkstoffs (7-stelliger ATC-Code) pro Kalendertag (M2a), c) Median der rechnerischen pDD eines Wirkstoffs (7-stelliger ATC-Code) pro Kalendertag (M2b), d) individuelle pDD (je Fall und je Wirkstoff (7-stelliger ATC-Code)) pro Kalendertag (M3).
  • Arzneimitteltherapie in dauerhafter Anwendung: 80% Coverage (Erfüllung des Zeitintervalls) auf Basis der Arzneimittelreichweitendauer für die Tage von der ersten bis zur letzten Verordnung im Beobachtungszeitraum: 1.1. - 31.12.2009.
  • Arzneimittelempfänger mit 80%-Coverage: Person der Studienpopulation mit mindestens einem Arzneimittel in dauerhafter Anwendung im Beobachtungszeitraum.
  • Zusätzlich eingenommene Medikation umfasst die weiteren von den Arzneimittelempfängern mit 80%-Coverage im Beobachtungszeitraum konsumierten Arzneimittel, die nicht zur Arzneimitteltherapie in dauerhafter Anwendung gehören.
  • Gesamtmedikation: Summe der Arzneimittel in dauerhafter Anwendung und der zusätzlich eingenommenen Medikation je Person.

Ergebnisse: 1) Die Literaturrecherche diente der Erarbeitung der Analysenmethodik.

2) Hinsichtlich der vier Bestimmungsmethoden (M1, M2a, M2b, M3) zur Arzneimitteltherapie in Daueranwendung ergeben sich deutliche Unterschiede zum einen in der Anzahl an Personen mit solchen dauerhaft eingenommenen Arzneimitteln (sog. Arzneimittelempfänger mit 80%-Coverage) und zum anderen in der Anzahl dieser Arzneimittel je Person. Umgekehrt proportional variiert das Ausmaß der von den Arzneimittelempfängern mit 80%-Coverage zusätzlich eingenommenen Medikation je Person. Nach Methode M1 konnten 320.038 Personen (31,1% der Basispopulation, 21,6% der Versicherten) als chronische Arzneimittelanwender identifiziert werden (M2a: 39,5%, M2b: 50,0%, M3: 54,2% der Basispopulation). 31,1% der Basispopulation erhalten nach Methode M1 in der Gesamtmedikation mindestens ein Arzneimittel (7-stelliger ATC-Code) und 23,6% mindestens fünf Arzneimittel. In der Bestimmungsmethode M3 sind es 54,2% mit mindestens einem und 36,1% mit fünf oder mehr Arzneimitteln in der Gesamtmedikation.

Die Betrachtung der vier Methoden hinsichtlich der Anteile an Arzneimittel in dauerhafter Anwendung und zusätzlich eingenommener Medikation zeigt auf, dass mit zunehmender Individualisierung der DDD- bzw. pDD-Berücksichtigung immer mehr Wirkstoffe je Person als Arzneimittel in dauerhafter Anwendung klassifiziert werden und entsprechend immer weniger Wirkstoffe in die Kategorie der zusätzlich eingenommenen Medikation fallen. Gleichzeitig liegen immer höhere Mittelwerte, Medianwerte und Streubreiten (90%-Konfidenzintervall) für die Anzahl der Arzneimittel in dauerhafter Anwendung vor.

Schlussfolgerung: Die Definition der Multimedikation auf Basis von dauerhaft („chronisch“) eingenommenen Arzneimitteln zeigt in der vorliegenden Arbeit eine hohe Variabilität der Anzahl an betroffenen Personen je nach zugrundeliegender Bestimmungsmethode und der gewählten Messgröße zur Einteilung in das Vorliegen von Multimedikation. Mit diesem Vorgehen unterscheidet sich die Arbeit von den meisten Untersuchungen zum Themenkomplex. Die engere Definition erscheint aus pharmazeutischem Blickwinkel sinnvoll um die tatsächliche Arzneimittelbelastung eines Patienten über einen längeren Zeitraum zu bewerten. Weitere Arbeiten mit gleichen Grundannahmen wären wünschenswert, um die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung für die GKV in Deutschland zu bestätigen.

Insbesondere in Bezug auf bestimmte Patientengruppen, z.B. Kinder bis zu einem Alter von 14 Jahren und hochbetagte Personen über 85 Jahre ist zu vermuten, dass einzelne der vier methodischen Vorgehensweisen diskussionswürdig sind.

Multimedikation ist kein von vornherein negativ konnotierter Begriff und auch bei jedweder Definition kein gänzlich vermeidbares Arzneimittelversorgungsphänomen. Stattdessen erscheint es sinnvoll zwischen (klinisch) angemessener und unangemessener Multimedikation zu unterscheiden. Die Gesundheitsprofessionen sind gefordert, den Umgang mit Multimedikation strukturiert zu handhaben und Lösungen vor allem für eine unangebrachte Arzneitherapie anzubieten.


Literatur

1.
Thuermann PA, Holt S, Nink K, Zawinell A. Arzneimittelversorgung älterer Patienten. In: Günster C, Klose J, Schmacke N, eds. Versorgungs-Report 2012. Stuttgart: Schattauer Verlag; 2012. p. 111-30.
2.
Baum S, Hempel G. Geriatrische Pharmazie. Eschborn: Govi-Verlag Pharmazeutischer Verlag GmbH; 2011.