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Kongressbericht: Ärztliches Handeln im interkulturellen Kontext – Orientierung für eine kultursensible Medizin

7. Ärztetag am Dom des Arbeitskreises "Ethik in der Medizin im Rhein-Main-Gebiet"

Frankfurt am Main, 1. Februar 2014

Ärztliches Handeln im interkulturellen Kontext – Orientierung für eine kultursensible Medizin

Kongressbericht

  • corresponding author Gerd Hoffmann - Arbeitskreis Ethik in der Medizin im Rhein-Main-Gebiet; Johann Wolfgang Goethe-Universität, Institut für Sportwissenschaften, Frankfurt am Main, Deutschland
  • author Ulrich Finke - Arbeitskreis Ethik in der Medizin im Rhein-Main-Gebiet; St. Katharinen-Krankenhaus Frankfurt am Main, Deutschland
  • author Dewi Maria Suharjanto - Arbeitskreis Ethik in der Medizin im Rhein-Main-Gebiet; Haus am Dom, Frankfurt am Main, Deutschland
  • author Josef Schuster - Arbeitskreis Ethik in der Medizin im Rhein-Main-Gebiet; Philosophisch-Theologische Hochschule Sankt Georgen, Frankfurt am Main, Deutschland

Arbeitskreis Ethik in der Medizin im Rhein-Main-Gebiet. 7. Ärztetag am Dom des Arbeitskreises "Ethik in der Medizin im Rhein-Main-Gebiet". Frankfurt am Main, 01.-01.02.2014. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2017. Doc14eth01

doi: 10.3205/14eth01, urn:nbn:de:0183-14eth018

Published: April 25, 2017

© 2017 Hoffmann et al.
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Zusammenfassung

Durch die Öffnung der Grenzen, die hohe Mobilität, aber auch die starken Flüchtlingsströme gehört der Umgang mit Patienten und Patientinnen aus anderen Kulturkreisen zum ärztlichen Alltag, ganz besonders im Rhein-Main-Gebiet. Die sprachlichen und kulturellen Barrieren lösen in der medizinischen Praxis vielfach Konflikte aus, die sich auf die medizinische Behandlung als solche, aber auch auf die ethischen und religiösen Zusammenhänge auswirken. Der Ärztetag am Dom hat deshalb Fachleute kulturell verschiedener Herkunft eingeladen, Fallbeispiele vom Lebensanfang bis zum Lebensende zu erläutern.

Kultursensible Medizin am Lebensanfang (Dr. med. Yasar Bilgin, Vorsitzender der Türkisch-Deutschen Gesundheitsstiftung e.V., Gießen)

Das Leben im Krankenhaus und in der ärztlichen Praxis ist ein Spiegelbild des „normalen“ Lebens in unserer Gesellschaft. Somit haben die öffentlichen Diskussionen um Integration und Migration auch einen Einfluss auf das Verhältnis von Arzt und Patienten und können gegebenenfalls vorhandene Vorurteile widerspiegeln. Migration ist keine Krankheit und als Mediziner behandeln wir nicht nur die biologischen Vorgänge des menschlichen Körpers, sondern den ganzen Menschen unter Beachtung seiner Lebensumstände. Denn auch die individuellen Formen der Lebensgestaltung, Sichtweisen und Vorstellungen und natürlich der Glaube haben entscheidenden Einfluss auf den Umgang mit der eigenen Gesundheit und wie man sich der Herausforderung, die eine Krankheit bedeutet, stellt. Der Beitrag „Kultursensible Medizin am Lebensanfang“ widmet sich besonders den türkeistämmigen Migranten und erläutert die Besonderheiten sowie die kulturspezifischen Hintergründe dieses Patientenkollektivs. Mittlerweile lebt die vierte Generation der Zuwanderer in Deutschland, und damit sind vom Säugling bis zum Rentner alle Altersgruppen vertreten. Da in dieser Bevölkerungsgruppe eine überdurchschnittlich hohe Geburtenrate besteht, treffen wir im medizinischen Alltag auf viele Säuglinge und Kinder aus diesem Patientenkollektiv. So erklärt sich auch die Wichtigkeit, klientenorientierte Angebote im Bereich der Diagnose und Therapie anzubieten und als Ärzte und medizinisches Fachpersonal Wissen über die kulturspezifischen Hintergründe zu besitzen.

Kultursensible Medizin am Lebensende (Dr. med. Bernd Weber, Palliativstation, Krankenhaus Nordwest, Frankfurt am Main)

Wir leben in einer multikulturellen Gesellschaft, in der das Sterben so unterschiedlich vonstattengeht, wie das Leben selbst geführt wurde. Anhand von Fallbeispielen aus dem stationären Palliativbereich werden Sterbebegleitungen mit ihren unterschiedlichen Facetten und Schwierigkeiten geschildert.

Podiumsdiskussion „Ärztliches Handeln in der Praxis“

Kulturelle Barrieren gibt es nicht nur zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund, sondern auch in allen Bevölkerungsschichten bei Menschen mit unterschiedlichem medizinischem Kenntnisstand. Es herrschte Konsens darüber, dass Beschneidungen bei Mädchen nicht akzeptabel seien und dem Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit entgegenstehen. Diesbezüglich wurde die sehr starke Macht der Tradition, weniger der Religion, herausgestellt: Es wurde auf die große Bedeutung der Tradition (auch der Beschneidung) in unterschiedlichen Kulturen, die letztlich nichts mit der zugehörigen Religion zu tun habe, hingewiesen: es sei der Zwang, dazuzugehören. Das Spannungsfeld zwischen kultursensiblem Verhalten und Toleranz und andererseits nicht tolerablem Verhalten (wie Beschneidung bei Mädchen oder Vorenthalten von medizinischer Versorgung und von Vorsorgeuntersuchungen für kleine Kinder) wurde dargelegt. Das Thema des Ärztetags „Kultursensible Medizin“ wurde sowohl bezogen auf den Patienten (welchen kulturellen Hintergrund und welche religiösen Vorstellungen bringe der Patient mit) als auch bezogen auf die Ärzte beleuchtet (wie sieht der kulturelle Hintergrund der Ärzte aus, welche kulturellen/traditionellen Auffassungen von Krankheit und Tod bringen sie mit?). Es gebe in der Medizin zur Frage, ob die ethischen Prinzipien universalisierbar seien, zwei extreme Standpunkte, die Universalisten und die Relativisten. Einen Mittelweg beschreibt der integrierte, reflektierte Partikularismus: dies bedeute, von der Patientenperspektive herkommend, einerseits die kulturellen Phänomene zu berücksichtigen und andererseits darauf zu achten, dass bestimmte Menschenrechte oder auch andere sehr zentrale Normen dadurch nicht verletzt werden. Auf die Bedeutung von Sprachbarrieren wurde hingewiesen. Wenn die Kommunikation mit interkultureller Kompetenz und Kommunikationsmöglichkeiten funktionieren würde, hätte man auch Zeit und Geld gespart. Die Realität sehe aber häufig anders aus, die entsprechende Zeit fehle in der Praxis. Aus ethischer Sicht wurde aber davor gewarnt, aufgrund der realen Praxis unsere Ethik oder unser Berufsethos entstehen zu lassen: vielmehr sollte in Bezug auf die Ethik und ethische Prinzipien die Praxis gestaltet werden. Es sei letztendlich das Selbstverständnis des Arztes, dass die Leute zu ihm kommen und er ihnen – unabhängig von Ethnie oder Gesellschaftsschicht – hilft. Und glücklich der Arzt und glücklich der Patient, wenn sie aufeinandertreffen und miteinander umgehen können. Arzt und Patient sollten sich bemühen, aufeinander zuzugehen und sich zu verstehen: wir brauchen einen kulturellen Dolmetscher, nicht einen sprachlichen: das Sprachliche sei nicht das Hauptproblem, sondern das Verständnis für das, was kulturell dahinterstehe. Aufgrund einer Anregung aus dem Auditorium äußerten sich die aus verschiedenen Kulturkreisen stammenden Podiumsdiskussionsteilnehmer zu der Krankheitsrolle, die jeder Patient in seinem eigenen Kulturkreis einnimmt oder auslebt. Als Kranke in orientalischen Ländern, sei es Persien oder Sudan, möchte man im Mittelpunkt stehen, man wünsche sich mehr Zuwendung durch die Umgebung und dass die Menschen den Betreffenden begleiten, wenn man eine schwere Diagnose bekommt. Demgegenüber möchten Deutsche meist nicht über ihre Krankheit reden und wollen ihre Diagnose nicht ihren Mitmenschen mitteilen. Kultursensibilität habe auch viel mit Verständnis für andere Religionen zu tun. Kommunikation sei das Wichtigste, was es heute gebe, und deshalb sei es erstrebenswert, wenn sich Strukturen entwickeln, die diese Kommunikation zwischen den Menschen stärken. Das Zeigen von Ritualen und Kulturen und religiösen Überzeugungen sei in einem Zeitalter auch säkularer Einstellungen ganz unterschiedlich ausgeprägt. Toleranz sei das Sich-einander-Annähern ohne sich zu verletzen. Der Ethik in der Medizin sollte auch bei Zeitdruck und ökonomischen Zwängen ein gebührender Stellenwert eingeräumt werden.

Schlüsselwörter: Ethik in der Medizin, Medizinethik, interkulturelle Kompetenz, kultursensible Medizin, Kultursensibilität, Migration, Migrationshintergrund, Integration, kulturspezifischer Hintergrund, Krankheitsbegriff, Krankheitsverständnis, Beschneidung, Tradition, Religion, integrierter reflektierter Partikularismus, Kommunikation, Toleranz, Menschenrechte, Barriere, Sprachbarriere, Ritual, Kultur, Kulturen, säkular


Fragestellungen und Einführung in den 7. Ärztetag am Dom in Frankfurt am Main

Durch die Öffnung der Grenzen, die hohe Mobilität, aber auch die starken Flüchtlingsströme gehört der Umgang mit Patienten und Patientinnen aus anderen Kulturkreisen zum ärztlichen Alltag, ganz besonders im Rhein-Main-Gebiet. Die sprachlichen und kulturellen Barrieren lösen in der medizinischen Praxis vielfach Konflikte aus, die sich auf die medizinische Behandlung als solche, aber auch auf die ethischen und religiösen Zusammenhänge auswirken. Der Ärztetag am Dom hat deshalb Fachleute kulturell verschiedener Herkunft eingeladen, Fallbeispiele vom Lebensanfang bis zum Lebensende zu erläutern.

Prof. Dr. med. Ulrich Finke, Vorsitzender des Arbeitskreises Ethik in der Medizin im Rhein-Main-Gebiet, Ärztlicher Direktor des St. Katharinen-Krankenhauses Frankfurt am Main, führte in den 7. Ärztetag am Dom in Frankfurt am Main ein.


Kultursensible Medizin am Lebensanfang (Dr. med. Yasar Bilgin, Vorsitzender der Türkisch-Deutschen Gesundheitsstiftung e.V., Gießen)

Der Beitrag ist einem Patientenkollektiv gewidmet, auf das Sie in den nächsten Jahren im deutschen Gesundheitssystem zunehmend treffen werden. Es handelt sich um die Gruppe der Menschen, die in den letzten 50 Jahren aus der Türkei und anderen Ländern als Arbeitskräfte zu uns kamen und entgegen aller Erwartungen hierblieben. Der Beitrag widmet sich besonders den türkeistämmigen Migranten. Mittlerweile lebt die vierte Generation der Zuwanderer in Deutschland und damit sind vom Säugling bis zum Rentner alle Altersgruppen vertreten. Da in dieser Bevölkerungsgruppe eine überdurchschnittlich hohe Geburtenrate besteht, treffen wir im medizinischen Alltag auf viele Säuglinge und Kinder aus diesem Patientenkollektiv, denen der Beitrag gilt.

Einige Krankheitsbilder unterscheiden sich häufig durch das Ausmaß und das Alter beim Auftreten sowie die persönliche Einstellung zu Krankheit und Sterben. Bevor einige Fallbeispiele dargestellt werden und der Zusammenhang zwischen Migration und Gesundheit erläutert wird, sollen kurz einige demographische Bevölkerungsdaten vorgestellt werden: Abbildung 1 [Abb. 1], Abbildung 2 [Abb. 2], Abbildung 3 [Abb. 3], Abbildung 4 [Abb. 4], Abbildung 5 [Abb. 5].

Einige Zitate aus „Migration und Gesundheit“ von Michael Knipper und Yasar Bilgin [1]:

„Die Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund ist heterogen, nicht nur im Hinblick auf Herkunft und Ethnizität, sondern auch bezüglich ihrer kulturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Teilhabe.“ (S. 5)

„Insbesondere wird an sich widersprechenden Forschungsergebnissen deutlich, dass „Migration“ für medizinische Zwecke ein schwierig zu erfassendes und oft unzureichendes Kriterium ist.“ (S. 5)

„Migration ist nicht stets und nicht notwendig Ursache von Problemen, besonderen Belastungen oder Konflikten. Pointiert ausgedrückt: Migration ist keine „Krankheit“ und ist nicht „pathologisch“.“ (S. 17)

„Bei Begriffen wie „Migrant/in“ und „Migrationshintergrund“ oder auch „Ausländer“ handelt es sich um statistische bzw. juristisch-administrative Kategorien. Die Anwendung im Bereich der Medizin … ist mit erheblichen methodischen und theoretischen Problemen verbunden.“ (S. 20)

„Viele Menschen mit Migrationshintergrund finden im Vergleich zur übrigen Bevölkerung einen schlechteren Zugang zum Gesundheitssystem. Ein erstes Indiz dafür ist die geringere Nutzung von Angeboten zur gesundheitlichen Prävention und Vorsorge.“ (S. 6)

„… die Notfallambulanz [wird] von Menschen mit Migrationshintergrund häufiger als von der übrigen Bevölkerung beansprucht …“ (S. 6)

„Auch mangelnde Kommunikationsfähigkeit und Sprachkenntnisse - … - wirken als Zugangshindernisse zur Gesundheitsversorgung.“ (S. 6)

„Fehldiagnosen, Endlosdiagnosen, komplexe „Patientenkarrieren“ und Verzögerung bei Diagnose und Therapie sind offensichtliche Folgen erheblicher kommunikativer Probleme. Dies führt zu deutlichen gesundheitlichen Nachteilen für die betroffenen Patienten und nicht zuletzt auch zu sozioökonomischen Lasten der Solidargemeinschaft.“ (S. 7)

Das Leben im Krankenhaus ist ein Spiegelbild des „normalen“ Lebens in unserer Gesellschaft. Somit haben die öffentlichen Diskussionen um Integration und Migration auch einen Einfluss auf das Verhältnis von Arzt und Patienten und können gegebenenfalls vorhandene Vorurteile widerspiegeln. Migration ist keine Krankheit und als Mediziner behandeln wir nicht nur die biologischen Vorgänge des menschlichen Körpers, sondern den ganzen Menschen unter Beachtung seiner Lebensumstände. Denn auch die individuellen Formen der Lebensgestaltung, Sichtweisen und Vorstellungen und natürlich der Glaube haben entscheidenden Einfluss auf den Umgang mit der eigenen Gesundheit und wie man sich der Herausforderung, die eine Krankheit bedeutet, stellt.

Durch die moderne Medizinforschung werden immer rasantere Fortschritte in Diagnostik und Therapie realisiert. Selbst auf die kleinsten Bestandteile des Erbgutes können wir Einfluss nehmen und auch die Therapiemaßnahmen vor der Geburt – bereits im Mutterleib – entwickeln sich immer weiter. Zur Nutzung unseres Wissens und unserer neuen Methoden benötigen wir aber zudem die ethischen Grundlagen, die auch religiöse Ansichten und Inhalte umfassen müssen. Hier sind die Theologen gefordert, ihre Stellungnahmen beizusteuern und sich auf die Anwendbarkeit neuer Methoden hinsichtlich der religiösen Vorgaben zu äußern, auch wenn es häufig schwer ist, eine für alle akzeptable Antwort geben zu können. In Deutschland wird dies häufig ausschließlich vor dem christlichen Hintergrund gesehen und es fehlt an für Muslime und auch Angehörige anderer Glaubensrichtungen gültigen Aussagen. Viele Muslime in Deutschland haben einen stark ausgeprägten Glauben, der auf ihre Lebensgestaltung direkt Einfluss hat, und deshalb benötigen wir auch hinsichtlich der Anwendung neuer Methoden im Bereich der medizinischen Diagnostik und Therapie authentische Aussagen über deren Konformität in Bezug zum islamischen Glauben und der medizinischen Notwendigkeit. Besondere Bedeutung kommt hierbei auch dem Anfang des Lebens zu.

Die islamische Ansicht ist, dass während der Schwangerschaft der sich entwickelnde Mensch eines besonderen Schutzes bedarf. Die Gesundheit des Kindes hat eine große Bedeutung und der Koran spricht vom Uterus als sicherem und beschütztem Raum. Im Arabischen ist die Bezeichnung für den Uterus einer der 99 Namen Gottes (Rahim) und bedeutet „vollständige Barmherzigkeit“. Diese Eigenschaft wurde somit auf die Mutter übertragen. Alles, was die Gesundheit und Entwicklung des Kindes gefährdet, sollte ausgeschlossen werden. Deshalb sollten Mutter und Vater auch ausreichend darüber informiert werden, was sie aktiv dazu beitragen können und welche Präventivmaßnahmen und Vorsorgeuntersuchungen angeboten werden und man zum Wohle des Kindes nutzen sollte. Dies betrifft auch die Nutzung von Impfungen wie auch andere Präventivmaßnahmen zur Vermeidung von Erkrankungen oder zur Gesundheitserhaltung. Wird dies nicht befolgt, handelt man nicht nach dem Wunsch Gottes. Nach der islamischen Religion richtet sich das Gottesurteil nach dem Handeln des Menschen und dementsprechend sollte man im Einklang mit Gott handeln, auch in Bezug auf die Bewahrung der eigenen Gesundheit.

Gründe für einen Schwangerschaftsabbruch gibt es nur bei einer Gefahr für das Leben und die Gesundheit der Mutter oder in der Ausnahme einer Missbildung des Kindes, die das Kind mit Sicherheit lebensunfähig machen würde. Jeder Schwangerschaftsabbruch, der nicht aufgrund der oben genannten Sachverhalte erfolgt, gilt als Tötungsdelikt. Alle Formen der Empfängnisverhütung sind allerdings erlaubt. Nach der islamischen Auffassung findet die Menschwerdung erst mit Einhauchen der Seele durch Gott statt, was anscheinend nach Ausbildung der Organe des Embryos erfolgt. Ist es aus medizinischen Gründen notwendig, das Kind im Mutterleib zu behandeln, beispielsweise durch chirurgische Eingriffe, ist dies erlaubt, und das Kind wird wie ein normaler Mensch außerhalb des Mutterleibs betrachtet, dessen Leben es zu schützen und zu bewahren gilt. Lebensrettende und lebenserhaltende Maßnahmen sind somit gewünscht, und wir sehen ja in den letzten Jahren die rasante Entwicklung in diesen Bereich der Medizin, die es vielen Kindern überhaupt erst ermöglicht, das Licht der Welt zu erblicken. Genetische Manipulationen, wie zur Erschaffung eines Wunschkindes, sind im Islam allerdings nicht gestattet.

Wird das Kind als Totgeburt geboren, wird es ohne rituelle Gebete bestattet. Stirbt das Neugeborene, nachdem es auch nur einen Atemzug getan hat, wird es nach dem islamischen Ritus gewaschen und wie ein Erwachsener bestattet. Laut verschiedenen Versen im Koran hat der Mensch alle Möglichkeiten zur Gesunderhaltung anzunehmen. Auch wenn es im Islam einige Vorschriften zum Gebrauch von Speisen gibt, wie Schweinefleisch oder Alkoholkonsum, gilt dies nicht, wenn es therapeutisch notwendig ist und keine Alternativen vorliegen. Dies betrifft sowohl Arzneimittel als auch Bioprothesen, wie die Herzklappe vom Schwein. Implantationen sind ebenfalls erlaubt, da sie der Erhaltung der eigenen Gesundheit dienen.

Erkrankt ein Kind schwer oder gar unheilbar, ist dies ein sehr schwerer Schlag für die gesamte Familie. Gerade Eltern mit türkischem Migrationshintergrund werden dies sehr emotional aufnehmen und sollten dementsprechend vorsichtig und umsichtig von der Diagnose informiert werden. Die gesamte Familie wird versuchen, diesen schweren Schicksalsschlag zu tragen. Man sagt bei uns „Wie Gott gibt, so nimmt Gott auch“ und nach diesen Worten wird man versuchen, mit einer schwerwiegenden Erkrankung des eigenen Kindes umzugehen. Im Islam gibt es keine Erbsünde und somit auch keine Notwendigkeit einer Taufe wie im Christentum. Kinder gelten bis zu ihrer Pubertät als geborene Engel und gehen nach dem Tod als Engel direkt ins Paradies. Es gibt hierzu eine Hadis (Spruch) von Hz. Mohammed, die besagt, dass diese Kinder im Paradies Gott um die Vergebung der Taten ihrer Eltern bitten, wenn diese nicht im Einverständnis mit Gott gehandelt haben. Dieses Versprechen kann für die Eltern auch ein Trost sein. Allerdings trifft dies nicht für die Euthanasie zu, sie ist im Islam nicht erlaubt. Das Abstellen der lebensfunktionserhaltenden Geräte ist nach Feststellung des Hirntodes gestattet.

Die Beschneidung bei Jungen ist laut einer Sure im Islam nicht verpflichtend, sie wird nur empfohlen, auch wenn sich diese Empfehlung mit der Zeit als unverzichtbar für jeden Muslimen entwickelt hat. Das rituelle Fasten im Ramadan ist Kindern bis zum Abschluss der Pubertät und bei Krankheit nicht erlaubt.

Im Umgang mit Patienten – bzw. bei Kindern im Dialog mit den Eltern – muss man beachten, dass besonders türkeistämmige Patienten bei der Beschreibung von Beschwerden, Schmerzen und Organen Bezeichnungen benutzen, die man nicht wörtlich ins Deutsche übersetzen kann. Häufig wird von diesen Patienten eine sehr metapherhafte Sprache benutzt, die in ihrer Verständlichkeit auf den eigenen Kulturraum beschränkt ist. Auch das Schamgefühl ist anders ausgeprägt und muss von Ärzten und medizinischem Fachpersonal in ihrem Umgang mit dem Patienten Berücksichtigung finden. Auch bei Patienten im Säuglings- und Kinderalter müssen wir dies berücksichtigen, da Eltern mit Migrationshintergrund die Symptome ihrer Kinder häufig anders schildern, als Eltern ohne Migrationshintergrund.

Dabei ist auch zu beachten, dass besonders im türkischen Kulturraum ein sehr starker Kinderwunsch vorhanden ist und Kinder als Freude der gesamten Familie betrachtet werden. So werden Kinder in den Mittelpunkt der gesamten Familie gestellt. Alle Angehörigen fokussieren ihre Aufmerksamkeit auf die Kinder, und Mütter verhalten sich häufig äußerst behutsam, fürsorglich und meist durchaus ängstlich besorgt hinsichtlich des Wohls ihrer Kinder. Dementsprechend besorgt und mit Ängsten besetzt ist eine Erkrankung des Kindes. Eltern reagieren hier meist überemotional und können so durchaus die sichere Diagnosestellung erschweren, wenn Mediziner in diesem Bereich nicht entsprechend kultursensibel geschult sind. Außerdem verfügen viele dieser Eltern nur über ein sehr gering ausgebildetes medizinisches Laienwissen. Leider haben wir in Deutschland auch nur wenige Kinderfachärzte mit eigenem Migrationshintergrund, von denen sich Eltern mit gleichem Migrationshintergrund empathisch aufgenommen fühlen. Dies führt zu dem Phänomen, dass viele Eltern mit Migrationshintergrund überproportional häufig Notdienste oder die Notfallaufnahme in Kliniken mit ihren Kindern aufsuchen. Trotzdem herrscht häufig keine Suffizienz in der Diagnostik, so dass ich selbst schon mit einigen Fällen von Meningitis mit Todesfolge konfrontiert war, die nach meinem Ermessen durchaus bei rechtzeitiger Therapie vermeidbar gewesen wären.

Weitere Ausprägungen kultureller oder religiöser Art möchte ich Ihnen in den folgenden Fallbeispielen aus meiner eigenen medizinischen Tätigkeit darlegen:

Fallbeispiele:

Als erstes möchte ich auf den Tod eines vierjährigen Kindes durch Ertrinken eingehen, zu dem ich in die Universitätskinderklinik Gießen hinzugezogen wurde. Die Eltern reagierten überaus emotional und konnten nicht beruhigt werden. Auch hier war keine seelsorgerische Betreuung der Eltern möglich, da diese am Klinikum für islamische Gläubige nicht vorhanden ist. Das medizinische Fachpersonal und die Ärzte waren mit der Situation überfordert und konnten die Eltern nicht adäquat betreuen. Ich habe versucht, die Eltern zu trösten und habe für eine seelsorgerische Betreuung durch einen Imam (Prediger) gesorgt.

Für solche Ereignisse und akuten Geschehnisse sind Kliniken in Deutschland nicht adäquat ausgestattet. Es bedarf dringend der Einrichtung einer seelsorgerischen oder kulturspezifischen Notfallbetreuung mit einer Begleitung und Nachbetreuung der Angehörigen.

In einem anderen Fall wurde ich von einer Richterin aus München kontaktiert. Es ging um ein achtjähriges Kind mit einer schwerwiegenden Herzerkrankung und einer Ejektionsfraktion von weniger als 10%. Eine anstehende Herztransplantation lehnten die Eltern ab, und so wurde eine richterliche Verfügung erlassen, um das Leben des Kindes durch die Herztransplantation zu retten. Auch dies konnte die Eltern nicht überzeugen, und sie unternahmen jeden Versuch, die Transplantation zu verhindern. Ich wurde gebeten zu vermitteln, bin nach München geflogen und habe die Eltern aufgesucht. Es stellte sich heraus, dass sie kein Vertrauen zu den Ärzten hatten und sowohl die Diagnose als auch die Therapie in ihrer Richtigkeit bezweifelten. Ich konnte die Eltern von der Richtigkeit der Diagnose und Therapie überzeugen, und so stimmten sie in letzter Minute der lebensrettenden Transplantation zu. Das Mädchen konnte erfolgreich transplantiert werden und lebt nun mit einem Spenderherz. Sie besucht heute erfolgreich ein Gymnasium in München.

Auch dieses Beispiel verdeutlicht, wie wichtig Vertrauen in den Arzt von Seiten des Patienten ist. Selbstverständlich werden nicht alle Diagnosen und Therapien von diesem Patientenkollektiv angezweifelt, aber ich habe viele Fälle, in denen ich um Rat und Überprüfung der Diagnose und Therapieempfehlung gebeten werde. Auch wenn die Gesundheit kein klassisches Integrationsthema ist, kann der Gesundheitssektor die Integration von Migranten fördern. Beides steht in einer Wechselwirkung zueinander. Menschen, die sich in der Gesellschaft nicht wohlfühlen, suchen uns Mediziner häufig mit Organsprache auf. Auch hier zeigen sich Auswirkungen, die eine nicht gelungene Integration haben kann. Gesundheit ist eine wichtige Plattform, auf der wir zusammenkommen und gegenseitige Erfahrungen machen können. Menschen verschiedener Ethnien, Religionen und Bildungshintergründe treffen hier aufeinander. Eine optimale Interaktion mit den Patienten durch Mediziner und Gesundheitsanbieter wirkt auch förderlich auf das Zusammenleben in der Gesellschaft.

Viele Kollegen machen im Laufe ihrer Berufsausübung Erfahrungen mit gläubigen Patienten und lernen dabei, welche Einstellung diese zum Leben, zur Gesundheit und auch zum Umgang mit Krankheit haben. Verständnis und empathischer Austausch zwischen Arzt und Patient kann helfen, Vorurteile abzubauen und die eigenen Sichtweisen zu erweitern. Indem die Gesunderhaltung und Genesung als gemeinsames Ziel von Arzt und Patient angestrebt wird, kann Vertrauen entstehen und so auch der Integrationsprozess gefördert werden. Auch wir als Ärzte können somit von unseren Patienten lernen.

Aufgrund der Ist-Zustände und Zusammenhänge würden wir folgendes zur Verbesserung des deutschen Gesundheitssystems vorschlagen:

a) Die Gesundheit von Migranten unabhängig vom Integrationsprozess zu betrachten und zu diskutieren, um so gezielt Gesundheitsverbesserungen entwickeln und umsetzen zu können.

b) In Kliniken, in deren Einzugsgebiet ein hoher Anteil von Migranten lebt, bilinguales Fachpersonal zu beschäftigen und das Verwaltungs- und medizinische Personal interkulturell zu qualifizieren.

c) Die universitäre Medizinausbildung um das Fachgebiet Migration und Gesundheit zu ergänzen.

d) Durch die Kassenärztliche Vereinigung bilingualen Ärzten und Medizinern mit Migrationshintergrund in Gebieten mit hohem Anteil von Migranten die Niederlassung zu genehmigen.

e) Langfristig muss der Erwerb der deutschen Sprache durch bessere Förderangebote erreicht werden, die auch die Erhöhung der Wissenskompetenzen mit berücksichtigen.

f) Seelsorgerische Betreuung und Nachbetreuung für die mehr als vier Millionen in Deutschland lebenden Muslime zu installieren, besonders in den Ballungsräumen.


Kultursensible Medizin am Lebensende (Dr. med. Bernd Weber, Palliativstation, Krankenhaus Nordwest, Frankfurt am Main)

Wir leben in einer multikulturellen Gesellschaft, in der das Sterben so unterschiedlich vonstattengeht, wie das Leben selbst geführt wurde.

Es sollen hierzu 4 Fallbeispiele aus dem stationären Palliativbereich geschildert werden.

Sie kennen vermutlich aus ihren Tätigkeitsfeldern Sterbebegleitungen. Manche gelingen gut, bei anderen tritt man in Fettnäpfchen. Gelegentlich kommt es jedoch auch vor, dass man – ungewollt – Patienten und / oder Angehörige verletzt.

Fallbeispiel 1

Frau G.

  • 85 Jahre,
  • wohnhaft in Frankfurt/M., Hochhaus,
  • verheiratet (Ehemann ca. 60 Jahre alt),
  • keine Kinder,
  • Nationalität deutsch,
  • Konfession römisch-katholisch,
  • Kulturkreis Sinti/Roma,
  • KZ-Überlebende.

Erkrankungsvorgeschichte

  • 03/2013: Erstereignis eines cerebralen Krampfanfalles, anderes Frankfurter Krankenhaus.
  • Ursache: 4 x 5 cm große Raumforderung rechts frontal (auswärtiges Krankenhaus).
  • Auf Wunsch der Patientin und des Ehemannes keine weitere Diagnostik und Therapie.
  • 05/2013: stationäre Aufnahme im Nordwest-Krankenhaus.
  • Anamnese: zunehmende Verschlechterung des Allgemeinzustands, Schmerzen rechte Hüfte und Kopfschmerzen, Dyspnoe, Appetitreduktion.
  • Diagnostik: hochgradige Kachexie (BMI 14), Patientin nur partiell ansprechbar, eher desorientiert wirkend.
  • Keine Patientenverfügung, keine Vorsorgevollmacht.
  • Ehemann mit radiologischer Bildgebung einverstanden, lehnt endoskopische Diagnostik ab.
  • Cranielle Magnetresonanztomografie (cMRT): Raumforderung rechts frontal, Status idem.
  • Computer-Tomografie (CT) Thorax/Abdomen/Becken: Lungenabszesse, DD einschmelzende Metastasen, Verdacht auf Pleuramesotheliom bei entsprechenden pleuralen Veränderungen, Verdacht auf Lebermetastasen, Verdacht auf wandüberschreitend wachsenden rektalen Tumor,
  • Tumormarker nicht richtungsweisend.

Verlauf

  • Bei Aufnahme ansprechbar, ausgeprägt schwerhörig, Ärzten gegenüber misstrauisch.
  • Ehemann zunächst entschieden bzgl. des Ablehnens invasiver Diagnostik, fühlt sich an den Wunsch seiner Ehefrau gebunden.
  • Auch von unserer Seite aufgrund der fehlenden klinischen Konsequenz nicht forciert (Performance-Status der Eastern Cooperative Oncology Group ECOG: 4, d.h.völlig pflegebedürftig, keinerlei Selbstversorgung möglich).
  • Zunehmende Verschlechterung des Gesamtzustandes, nicht mehr ansprechbar.
  • Ehemann möchte nun doch bildgebende Diagnostik (cMRT, CT-Thorax / Abdomen), lehnt aber endoskopische Untersuchungen (Bronchoskopie, Rektoskopie) und Punktion zur histologischen Diagnostik ab. Durch radiologische Bildgebung jedoch keine eindeutige Eingrenzung der Diagnose möglich.
  • Weitere Versorgung außerhalb des Krankenhauses schwierig.
  • Ehemann zunächst mit Hospizunterbringung einverstanden (Wunsch Evangelisches Hospiz, Frankfurt am Main), wird dann jedoch vom Verband der Sinti und Roma „abgeraten“. Gründe werden nicht genannt. Zum angebotenen Gespräch mit der Vereinsführung kommt es nicht.
  • Ehemann mit der pflegerischen Versorgung trotz intensiver Anleitung überfordert. Kann sich eine Versorgung zu Hause nicht vorstellen.
  • Nach Rücksprache mit der Hausärztin beschreibt diese die Notwendigkeit des Wohnungswechsels von Herrn G., wenn Patientin in der Wohnung versterben würde.
  • Ehemann bittet dringend darum, dass Ehefrau in der Klinik versterben darf; mit Weiterbehandlung im Sinne eines best supportive care einverstanden.
  • Patientin verstirbt nach 20-tägigem stationärem Aufenthalt, 5 Tage nach Entscheidung zu best supportive care, an einem Multiorganversagen auf der Palliativstation.

Probleme

  • Lebenserfahrung, Misstrauen gegenüber Ärzten (Konzentrationslager).
  • „Abraten“ von weiterer Hospizversorgung durch den Verein der Sinti/Roma in Deutschland.
  • Notwendigkeit eines Wohnungswechsels bei Versterben zu Hause.

Fallbeispiel 2

Frau C.

  • 69 Jahre,
  • wohnhaft in Frankfurt am Main,
  • verheiratet,
  • 3 Kinder: 2 Töchter, 1 Sohn (zwischen 40 und 45 Jahren),
  • Nationalität türkisch,
  • Kulturkreis türkisch,
  • Konfession Moslem,
  • Beruf: Rentnerin, früher Hausfrau und Mutter.

Vorgeschichte

  • 05/2011: Eerstdiagnose peritoneal metastasiertes Magenkarzinom.
  • 06/2011–04/2012: diverse palliative Chemotherapien.
  • 05/2012: Gastrojejunostomie, Omentum-majus-Resektion bei maligner Magenausgangsstenose.

Aktuell (06/2012)

  • Stationäre Aufnahme wegen abdomineller Schmerzen in Verbindung mit Übelkeit und Erbrechen.
  • Ursache: Kombination aus mechanischem und paralytischem Ileus.
  • Lösung: Anlage einer Ablauf-PEG.
  • Zusätzliches Problem: fieberhafte Port-Infektion (Enterobacter cloacae).

Probleme

  • Patientin spricht kaum deutsch, auf Übersetzung der Kinder angewiesen, die jedoch „schlechte Nachrichten“ von der Mutter fernhalten möchten.
  • Ausführliche Gespräche über die hoch-palliative Situation (Sprechen über Hospiz, Einschluss in spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV) bei Favorisierung einer häuslichen Versorgung) und das Einstellen der parenteralen Ernährung, was jedoch von der Familie vehement abgelehnt wird.
  • „Beispiel aus naturwissenschaftlicher Sichtweise mit Parallelen zu sterbenden Tieren, die die Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr ebenfalls einstellen“, führte zu Beschwerdebrief.

Fallbeispiel 3

Frau N.

  • 57 Jahre,
  • wohnhaft Kamerun,
  • verheiratet,
  • 2 Töchter (34, 36 Jahre), in Deutschland und Frankreich lebend,
  • Nationalität Kamerun,
  • Muttersprache französisch,
  • Kulturkreis afrikanisch,
  • Konfession katholisch.

Vorgeschichte

  • 11/2013: Erstdiagnose Adeno-CUP („cancer of unknown primary origin“, zytologischer Nachweis eines Adenokarzinoms im Pleuraerguss) mit einem ausgedehnten pleuralen Befall links; kein weiterer Tumorbefall nachzuweisen / kein Primärtumor.

Symptome

  • ausgedehnte Ruhedyspnoe, trockener Husten, Gewichtsabnahme.

Therapie

  • Regelmäßige Pleurapunktionen, zuletzt bei gekammertem Erguss ohne wesentlichen klinischen Profit.
  • 12/2013: Einleitung einer palliativen Chemotherapie in reduzierter Dosis bei schlechtem Allgemeinzustand geplant, jedoch nicht mehr dazu gekommen.

Verlauf

  • 05.12.2013: Verlegung der ausschließlich französisch sprechenden Patientin auf unsere Palliativstation.
  • Allgemeinzustand täglich schlechter werdend, sehr ausführliche Gespräche mit der Familie über den zu erwartenden Tod; Patientin selbst zu diesem Zeitpunkt wach, aber auch für die Familie nicht allseits orientiert (Morphinfolge?, Ausschluss einer cerebralen Metastasierung erfolgt); Familie ganztägig anwesend; sehr entspannte Atmosphäre im Zimmer, es wird viel gelacht und gesungen; insbesondere der Musiktherapeut ist gerne gesehen. Parallelen zu Mandelas Tod.
  • 11.12.2013: Patientin verstorben.

Fallbeispiel 4

Herr A.

  • 38 Jahre,
  • wohnhaft in Frankfurt am Main,
  • verheiratet (Ehefrau 35 Jahre),
  • 4 Kinder (Alter: 21, 17, 8, 6 Jahre),
  • Eltern (beide Anfang 60, sehr gute Sprachkenntnisse, schon lange in Deutschland lebend, jedoch starke Wurzeln in der Türkei, haben eigenes Haus in Türkei, verbringen viel Zeit dort),
  • Nationalität türkisch,
  • Kulturkreis mitteleuropäisch,
  • Konfession Moslem,
  • Beruf: Patient: selbstständig, kleines Transportunternehmen, 1 Angestellter; Ehefrau: Lehrerin in Gymnasium.

Vorgeschichte

  • 03/2010: Erstdiagnose Rektumkarzinom, initial Stadium IIIB.
  • 04/2010–12/2010: Neoadjuvante Radio-Chemotherapie, dann Rektumresektion, dann adjuvante Chemotherapie.
  • 05/2012: Erstdiagnose pulmonale und cerebrale Metastasen.
  • 05/2012–06/2012: Ganzhirn-Radiatio mit 40 Gy.
  • 06/2012–08/2012: Folfox / Bevacizumab, → PD cerebral).
  • 08/2012: lokale Radiatio Hirnmetastase, links hochparietal.
  • 09/2012: Folfox / Cetuximab.
  • 09/2012: Anlage eines Anus praeter bei Abszess im Analbereich und recto-cutaner Fistel.
  • Danach best supportive care.

Medizinischer Verlauf

  • 07.10.2012: stationäre Aufnahme wegen Ruhedyspnoe bei pulmonaler Metastasenprogredienz und poststenotischer Pneumonie.
  • 09.10.2012: klinische Besserung, jedoch sehr unruhig, stürzt mehrfach; Einsatz von Dormicum-Perfusor, Familie und Patient drängen auf Fortführung der Chemotherapie; Allgemeinzustand jedoch zu schlecht, viele Angehörige als „Sterbewache“, viel Unruhe.
  • 17.10.2012: auf dringenden Wunsch der Familie CT-Re-Staging durchgeführt → PD; nach ausführlichem Gespräch mit Ehefrau Einigung auf best supportive care, Entlassung mit spezialisierter ambulanter Palliativversorgung (SAPV)-Unterstützung nach Organisation der notwendigen Hilfsmittel geplant.
  • Ab 18.10.2012: zunehmende Schmerzen bei Verdacht auf erneuten rektalen Abszess, keine chirurgische Interventionsmöglichkeit → Warten bis Fistel entsteht und sich Abszess selbst drainiert, Steigerung der Morphindosis, zunehmende Überforderung der Familie je näher Entlassungstermin rückt; Vorschlag, sich ein Hospiz anzuschauen, wird entschieden abgelehnt.
  • 23.10.2012: Teambesprechung: Konsens, Patient bis zum Tod in Klinik zu behalten; Eltern treten jetzt häufiger in Erscheinung, mindestens 1 Familienangehöriger dauerhaft anwesend.
  • 24.10.2012: rezidivierende Petit-mal-Krampfanfälle → antikonvulsive Therapie; Pyelonephritis → Dauerkatheter-Anlage, persistierende Unruhezustände.
  • 30.10.2012: Pat. sterbend; Antibiotikum und parenterale Ernährung nach Rücksprache mit Ehefrau abgesetzt; jetzt auch zusätzlicher Ketamineinsatz notwendig; Mutter interveniert häufig, warum keine Chemotherapie gemacht wird, jetzt auch Vater anwesend, der bislang in Türkei war; erste Konflikte zwischen Ehefrau/ältester Tochter und den Eltern werden offen ausgetragen.
  • 03.11.2012: Über Fistel entleert sich massiv Eiter, Patient entfiebert, stabilisiert sich, nimmt Trinknahrung und Flüssigkeit zu sich.
  • 16.11.2012: Patient stabil, kann in Sessel mobilisiert werden; sehr hoher Gesprächsbedarf bei Familie, Psychoonkologische Unterstützung, insbesondere der Ehefrau und der Mutter angeboten, wird nur begrenzt angenommen.
  • 16.11.2012: Ehefrau wird zunehmend von Schwiegereltern angegangen, weil best supportive care zugestimmt.
  • 19.11.2012: erneute cerebrale Krampfanfälle; neu: Hemiparese rechts; Familie leidet sehr unter dem sich hinziehenden Sterbeprozess; jüngere Kinder möchten nicht mehr, dass Mutter ins Krankenhaus geht, damit sie sich nicht am Krebs ansteckt.
  • Ehefrau hat zunehmend auch finanzielle Probleme, da die Firma ihres Mannes überschuldet ist, muss nun auch wieder arbeiten.
  • 28.11.2012: Patient auf niedrigem Niveau stabil, ist meist wach und weitgehend orientiert; anwesend sind überwiegend die Eltern, unterstützen die Pflege, trauen sich eine Betreuung zu Hause aber auch nicht zu, häufiger auch Meinungsverschiedenheiten zwischen Sohn und Vater.
  • 30.11.2012: Familienrat Ehefrau und beide ältere Töchter, trauen sich die Versorgung zu Hause nicht zu; die beiden jüngeren Kinder meiden das Wohnzimmer, wo sich ihr Vater zuletzt zu Hause, überwiegend auf dem Sofa liegend, aufgehalten hatte; Ehefrau hat sich St.-Katharinen-Hospiz angeschaut; wegen befürchteter Vorwürfe des „Abschiebens“ durch die Eltern kommt dies jedoch weiterhin nicht in Frage.
  • 10.12.2012: zunehmende Aggressivität von Seiten des Patienten, Notwendigkeit einer erneuten tieferen Sedierung.
  • 27.12.2012: massive innerfamiliäre Konflikte, die Möglichkeit einer häuslichen Versorgung ist weder bei Eltern noch bei Ehefrau gegeben, Eltern und Ehefrau sind so gut wie nie gemeinsam anwesend.
  • 11.01.2013: Patient weitgehend stabil auf sehr niedrigem Niveau; unter Morphinperfusor schmerzfrei; unter Dormicum- und Ketanestperfusor führbar, aktuell keine fokalen Krampfanfälle mehr; Eltern wünschen erneute CT-Diagnostik; wird von unserer Seite unter dem Hinweis auf fehlende Konsequenzen abgelehnt.
  • 16.01.2013: Vater beklagt, dass in der Nacht (Ehefrau war anwesend) Morphin- und Dormicum-Dosis gesteigert werden mussten; immer, wenn die Eltern nicht anwesend seien, würde es nicht klappen, die Schwiegertochter wolle ihren Mann sowieso nur sterben lassen.
  • 23.01.2013: trotz weiterhin intermittierend auftretender fokaler cerebraler Anfälle und hohem Schmerzmittel- und Sedierungsbedarf stabiler Zustand, hat klinisch Harnwegsinfektion, auf Nachfrage des Vaters nach antibiotischer Behandlung nochmals auf unser Behandlungskonzept eines best supportive care hingewiesen.
  • 24.01.2013: erneute Teambesprechung; Konsens: nochmals außerklinische Versorgung ansprechen; Gesprächsangebot an alle beteiligten Familienmitglieder gemacht; auf Wunsch der Ehefrau sollen die Eltern jedoch ausgeschlossen bleiben.
  • Eltern ziehen sich zurück, kommen auch nicht mehr zu Besuch, soll Schwiegertochter jetzt alleine machen.
  • 26.01.2013: Ehefrau und beide älteren Töchter haben sich darauf geeinigt, dass Patient zu Hause versorgt werden soll; Hilfsmittel werden erneut organisiert, ambulanter Pflegedienst/SAPV informiert, älteste Tochter wird in das Aufziehen von Medikamenten und das Anhängen von Infusionen eingewiesen.
  • 03.02.2013: am Tag vor der geplanten Entlassung kommt Ehefrau tränenüberströmt in die Klinik und erklärt, dass sie die Versorgung doch nicht zu Hause leisten können, es soll nun doch ein Hospizplatz gesucht werden.
  • 04.02.2013: gemeinsames Gespräch aller Familienmitglieder, jetzt doch Hospizplatzsuche; Patient hat Fieber, noch einmal das Konzept des best supportive care gegenüber den Eltern verteidigt; ausschließlich symptomatische Fiebersenkung.
  • 08.02.2013: Patient verstorben.

Probleme

  • Junges Alter, sehr lange Sterbephase.
  • Intergenerationskonflikte zwischen Ehefrau und Schwiegereltern.
  • Interkulturelle Konflikte zwischen „mitteleuropäisch“ denkender, hier aufgewachsener türkischer Ehefrau und noch im traditionellen Bewusstsein verhafteter Eltern.

Podiumsdiskussion „Ärztliches Handeln in der Praxis“

Prof. Dr. med. Stephan Sahm – Chefarzt am katholischen Kettelerkrankenhaus in Offenbach am Main, einer durch eine multi-kulturelle Gesellschaft geprägten Stadt, Palliativmediziner, behandelt Patienten überwiegend mit Krebserkrankungen, zugleich in der Lehre für Medizinische Ethik am Fachbereich Medizin der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main tätig – moderierte die Podiumsdiskussion, in der unter Einbeziehung des Auditoriums die verschiedenen Aspekte des Themas vertiefend erörtert wurden.

Prof. Sahm stellte zunächst die Teilnehmer der Podiumsdiskussion vor:

Frau Dr. med. Akhtar Alipour Rafi, in ihrer Praxis in Kelkheim-Ruppertshain bei Frankfurt am Main tätig, in Teheran geboren, in der persischen Kultur großgeworden, hat aber auch sehr viel Erfahrungen dann schon als junge Frau hier gesammelt, hat auch hier studiert, ist natürlich für diesen interkulturellen Kontext prädestiniert.

Frau Dr. med. Einander Tahir kommt aus Khartum im Sudan, ist Gynäkologin und hat große Erfahrung, betreut Frauen, die gebären, und Frauen mit all ihren Krankheiten in diesem Kontext.

Herr Dr. med. Michael Simonsohn ist in Hamburg geboren, seine Familiengeschichte lehrt, dass sie auch geprägt ist durch die schlimme Zeit in unserem Lande. Herr Simonsohn hat Medizin studiert in Frankfurt am Main, als niedergelassener Internist tätig, insbesondere im Bereich der Behandlung von Stoffwechselerkrankungen und Diabetologie, ein erfahrener Arzt, der natürlich auch den Hintergrund gerade jüdischen Lebens hier in die Diskussion mit einbringen kann.

Herr Dr. med. Jabbar Said Falyh, geboren in der Stadt Uruk (Irak), der angeblich ältesten Stadt der Welt, lebt schon lange hier, niedergelassener Kinderarzt, wenn es um die Frage des kultursensiblen Umganges am Lebensanfang geht, wird er für Fragen zur Verfügung stehen.

Prof. Sahm berichtete von einem Arztehepaar, das viele Hausbesuche in Offenbach macht und viele Patienten muslimischen Glaubens betreut, aber eigenartigerweise die Patienten nicht zu Hause und nicht hier sterben. Prof. Sahm fragte Frau Dr. Rafi, wo muslimische Patienten sterben. Frau Dr. Rafi antwortete, dass dies sehr unterschiedlich sei, dass sie tagtäglich Patienten aus anderen Kulturkreisen kennenlerne und betreue und dass sie dabei oft sehe, dass die Patienten dann doch im Krankenhaus sterben, anstatt, wie sie es sich gewünscht haben, zu Hause in gewohnter Umgebung sterben zu können. Frau Dr. Rafi legte an einem Beispiel dar, wie sie sich für Schwerkranke und auch deren Angehörige auch unter Zeitdruck Zeit nehme, mit diesen zu sprechen und dem Wunsch nach Sterben zu Hause nachzukommen. Prof. Sahm fragte an dieser Stelle nach, ob die häusliche Versorgung zu organisieren und das Loslassen eines geliebten Menschen für Menschen aus dem muslimischen Hintergrund schwieriger sei, ob es also kulturelle Unterschiede gebe. Frau Dr. Rafi legte dar, dass es für muslimisch geprägte Menschen schwieriger sei loszulassen, verbunden mit anderen kulturellen Gepflogenheiten, wie Tanzen und Musik nach der Beerdigung, 40 Tage werden die Angehörigen des Verstorbenen nicht alleinegelassen.

Prof. Sahm gab die Frage auch an Frau Dr. Tahir weiter: gerade in den Städten in Deutschland, in denen es sehr viele Menschen muslimischen Glaubens gebe, machen Ärzte die Erfahrung, dass sie die Patienten in der Praxis betreuen können, aber sich wundern, wo die Menschen sterben. Gehen die Muslime ins Krankenhaus oder gehen Sie vielleicht sogar in ihre Heimatländer zurück? Auch in Hospizen seien sie seltener, als es ihrem Bevölkerungsanteil entspricht, vertreten. Prof. Sahm fragte, ob es Besonderheiten gebe, wie Menschen muslimischen Glaubens mit dem Sterben umgehen. Frau Dr. Tahir legte dar, dass sie es bei der Betreuung von schwangeren Frauen meist mit dem Lebensbeginn und nicht mit dem Lebensende zu tun habe, erläuterte aber an einem Beispiel eines kurz vor der Geburt verstorbenen Kindes, dass Muslime, auch aus familiären Gründen, meist in ihrer Heimat begraben sein möchten und dies oft auch so gehandhabt werde. In Deutschland gebe es auch nur begrenzt Friedhöfe, in denen ein Teil für muslimische Bestattungen vorgesehen sei.

Prof. Sahm fragte Dr. Simonsohn nach den Erwartungen von Menschen jüdischen Glaubens, was am Lebensende angesprochen werden solle und ob es möglich ist, dass der Synagogenvorsteher, der Rabbi, als Seelsorger ins Krankenhaus komme. Dr. Simonsohn antwortete, dass es eine freiwillige Gruppe von Personen gebe, die, wenn es verlangt werde, ins Krankenhaus kommen, und auch der Rabbiner würde kommen, wenn man ihn darum bitte. Es gebe in Frankfurt zwei Krankenhäuser, das Katharinenkrankenhaus und das Bürgerhospital, die eng mit der jüdischen Gemeinde zusammenarbeiten. Es gebe aber keinen jüdischen Klinik-Seelsorger.

Prof. Sahm fragte Dr. Falyh als Kinderarzt, wo Eltern muslimischen Glaubens wollen, dass ihr krebskrankes Kind sterbe oder wo es beerdigt werden solle. Dr. Falyh legte aufgrund seiner Erfahrung mit der arabischen Gemeinde dar, dass es hier zu wenige Friedhöfe gebe, die auf die Rituale einer muslimischen Bestattung eingerichtet seien, so müsse bei der Beerdigung eines Muslimen der Kopf Richtung Mekka ausgerichtet sein. Die meisten sterben zwar hier im Krankenhaus, werden dann aber in ihre Heimatländer transportiert, um dort in einer heiligen Stätte begraben zu werden.

Dr. Falyh erläuterte den orientalischen Begriff von Krankheit, weil er das als grundlegend für ein interkulturelles Verständnis ansehe: so betrachte der Orientale Krankheit ausschließlich als exogen, von außen kommend und nicht von innen kommend. Die Ätiologie sei für den Orientalen wichtig, damit er eine Kausalität habe, und man müsse das genau erklären, was dahinter stecke, dann sehe man, wie er sich verhalte. Bei der Anamnese werde typischerweise vom Patienten oder zum Beispiel auch besonders von Müttern erkrankter Kinder immer wieder darauf hingewiesen, dass sie keine Schuld an der Erkrankung hätten, sondern dass sie alles gemacht hätten, weil sie die Krankheit als etwas betrachten, das von außen komme, und dann spielen aus Sicht von Herrn Falyh natürlich auch bestimmte Sachen eine Rolle wie magischer Zauber, blauer Stein gegen böse Augen usw. Und das Verhalten türkischer oder orientalischer Patienten dem Arzt gegenüber sei anders, da sie eine Ätiologie im Sinne einer von außen kommenden Kausalität der Erkrankung benötigen für alles weitere Handeln. Prof. Sahm fragte nach, wie oft Dr. Falyh Konflikte erlebe, dass Mütter nach dem Krankheitsverständnis, das er, Dr. Falyh, aufgrund seiner Ausbildung an der Universität in Mainz und im Kausalitätsverständnis der Krankheitsentstehung hier habe, aufgrund ihrer magischen Denkensweise ihren Kindern Behandlungen oder Diagnosemöglichkeiten vorenthalten. Dr. Falyh antwortete, dass er das sehr oft sehe. Prof. Sahm fragte nach, wie er damit umgehe. Dr. Falyh erläuterte, dass er ja den kulturellen Hintergrund kenne und das sei die Problematik: er könne ja genau erklären, dass es kein magisches Auge usw. sei. Manchmal akzeptiere er das auch, dann werde eben der blaue Stein draufgelegt, damit kein magisches Auge da sei, zugleich aber darauf hingewiesen, dass Paracetamol eingenommen werden müsse. Prof. Sahm fragte nach, ob Dr. Falyh eine so einfache Konfliktlösung wirklich erlebe, der Stein halt auch noch da sei, wenn die andere Therapie laufe, oder komme es nicht doch vor, dass Mütter vielleicht Kindern etwas vorenthalten, was nach westlich-kultureller Mediziner-Ausbildung essenziell wäre. Dr. Falyh bejahte dies und legte auch dar, dass Patienten ihm manchmal folgen, manchmal aber auch nicht, wenn Patienten dann zum Beispiel ihre Mutter in Marokko anrufen und deren Rat befolgen, was er dann akzeptieren müsse.

Prof. Sahm sprach im Hinblick auf die Befolgung von Behandlungsempfehlungen Dr. Simonsohn an, ob es wirklich einen kategorialen Unterschied im Umgang mit anderen Kulturen gebe, insbesondere, ob seine Diabetiker seine Ratschläge befolgen. Dr. Simonsohn antwortete, dass das häufig nicht der Fall sei und dass er sich von den Ausführungen von Dr. Falyh sehr angesprochen gefühlt habe und er das bestätigen könne. Insbesondere sei Sprache ein Riesenproblem, wenn zum Beispiel Patienten mit Angehörigen kommen und es für den Arzt völlig unklar bleibe, was die übersetzenden Angehörigen dem Patienten eigentlich sagen. Im Laufe seiner 23-jährigen ambulanten Tätigkeit habe er gemerkt, dass ein Mensch eben nicht eine Maschine sei und dass man auf den Menschen individuell und mit Verständnis eingehen müsse, selbst wenn damit keine optimale Therapie im westlichen Sinne erreicht werden könne. Er habe Patienten aus 43 verschiedenen Nationen bei sich in der Praxis, darunter auch eine große Zahl von türkischen und marokkanischen Patienten, die, obwohl sie 40 Jahre in Deutschland seien, kein Wort Deutsch können. Allein die Untersuchung von Nervenstörungen in den Füßen bei Diabetikern bei Patienten, die weder lesen noch schreiben können, und aufgrund der Sprachschwierigkeiten sei schwierig, und es bleibe offen, was der anwesende Ehemann, der vielleicht etwas Deutsch kann, seiner Frau von dem vom Arzt Erläuterten sprachlich weitergebe. Dr. Rafi ergänzte zu dieser Problematik, dass sie – auch unabhängig von Sprachbarrieren, also auch bei Deutschen – öfters sehr große Probleme habe, ihren Diabetikern beizubringen, was Polyneuropathie/Nervenbefall bei Diabetes ist und wie sie sich zu verhalten hätten.

Prof. Sahm fasste dies als vorläufiges Resümee zusammen, dass es kulturelle Barrieren nicht nur zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund gebe, sondern auch in allen Bevölkerungsschichten bei Menschen mit unterschiedlichem medizinischem Kenntnisstand.

Auf einen anderen Themenkomplex eingehend fragte Prof. Sahm Frau Dr. Tahir als Gynäkologin, wie sie mit afrikanischen Praktiken der Genitalbeschneidung von Frauen umgehe. Dr. Tahir berichtete von einer jungen Patienten aus Somalia, die als Kind genital verstümmelt wurde und die in ihrer Praxis wegen starker Schmerzen bei jeder Periode kam. Die Untersuchung habe eine narbige Scheideneingangsöffnung von nur 2 mm ergeben. Entsprechend habe sie der Patientin zu einer Operation geraten, da sie nicht lebenslang Schmerzmittel jeden Monat einnehmen könne. Die Entscheidung zur Operation sei der Patientin trotz ihrer massiven Beschwerden sehr schwergefallen. Die Operation brachte eine wesentliche Besserung. Der seelische Schmerz mit der Erinnerung an alle Einzelheiten der Genitalverstümmelung in der Kindheit ohne Narkose bleibe aber. Auf Nachfrage von Prof. Sahm erläuterte Frau Dr. Tahir, dass dies ein häufiges Problem sei, dass sie in ihrer Praxis mittlerweile zwei- bis dreimal in der Woche Frauen sehe, die als Kind beschnitten wurden, entweder im schwangeren Zustand oder nicht schwangeren Zustand, mit Beschwerden, mit Infektionen, mit Komplikationen, mit einem Sexualleben, das nur von Schmerzen geprägt ist, oder die gar kein Sexualleben haben können vor Schmerzen. Und nur wenige hätten den Mut zu einer rückgängigmachenden Operation. Auf Nachfrage aus dem Auditorium, ob Familien wollen, dass ihre Töchter jetzt hier in Deutschland beschnitten werden, legte Frau Dr. Tahir dar, dass sie damit nichts zu tun habe, da die Familien wüssten, dass dies in Deutschland verboten sei. Eigentlich sei es in keinem Land erlaubt, das sei gesetzlich auch in den Ländern, wo es früher gemacht wurde, in allen ostafrikanischen Ländern, per Gesetz verboten. Nichtsdestotrotz machen es die Leute dort weiter. Dr. Falyh legte dar, dass sich ein Teil der Iraker, insbesondere aus Kurdistan stammend, wegen Beschneidungen von Mädchen oder Jungen im Kindesalter an ihn, weil er aus dem Irak stamme, wenden. Dr. Falyh erläuterte, dass er Mädchen grundsätzlich – mit Hinweis auf die juristische Seite – nicht beschneide. Ob das von den Eltern akzeptiert werde, sei eine andere Frage. Vermutlich gingen die Eltern in ihre Heimat zurück, um ihre Töchter dort beschneiden zu lassen.

Frau Dr. Tahir erläuterte die Genitalverstümmelung/Beschneidung bei Mädchen: sie habe ihre Doktorarbeit darüber geschrieben, es sei eine alte Tradition, es gebe verschiedene Theorien und Thesen über deren Anfang, man vermute, dass es bei den alten Ägyptern zur Pharaonenzeit begonnen habe, man habe eine Mumie gefunden, bei der man vermutet habe, dass diese Frau beschnitten wurde oder die Genitalien entfernt waren und sie zugenäht wurde. Das lateinische Wort „Infibulation“ bedeute „ausschneiden und zumachen“. Da werden die großen und kleinen Schamlippen und die Klitoris entfernt. Unterschiedlich von Region zu Region werden dazu Gegenstände, wie Glasscherben, Messer, Rasierklinge oder Schere, verwendet, die Wunde werde geschlossen, genäht oder mit Dornen zusammengestochen, es werden Kräutermischungen daraufgegeben und die Beine für zwei Wochen zusammengebunden, bis die Wunde zusammengeheilt sei. Das sei die extremste Form der Genitalverstümmelung, wie sie in Ostafrika, also in Äthiopien, Somalia, Eritrea, Dschibuti, Sudan, Kenia sowie in Südägypten, sehr verbreitet sei; daneben gebe es verschiedene Zwischenformen, bei denen nur die Klitoris oder nur die Klitoris und die kleinen Schamlippen entfernt werden. Die Genitalverstümmelung werde in unterschiedlichem Alter und aus unterschiedlichen Gründen durchgeführt.

Aus dem Auditorium wurde die Frage gestellt, ob es im Sinne eines kulturellen Leadership Menschen in der jeweiligen kulturellen Elite gebe, die sich verantwortlich dafür fühlen, mit den entsprechenden religiösen Führern, den Meinungsbildnern in diesen Gemeinden, sich darüber auseinanderzusetzen und sich gegen die Beschneidung von Mädchen auszusprechen. Dr. Falyh legte dar, dass es kulturelles Leadership gebe, das seien die Imame und die Sekten, Beschneidung bei Mädchen sei aber eine Tradition und nichts Religiöses. Es gebe Muslime, die beschneiden, und es gebe Christen, die beschneiden. Das beruhe nicht auf Aussagen religiöser Führer, sondern werde in den Familien gemäß ihrer Tradition entschieden. Frau Dr. Tarhir erläuterte, dass es islamische Gelehrte, wie zum Beispiel das Oberhaupt in Ägypten, gebe, die die Beschneidung von Mädchen verboten haben und gesagt haben, dass dies mit dem Islam nichts zu tun habe und dafür plädiert haben, dass ein Muslim das nicht zu machen brauche. Nichtsdestotrotz würde es von den Leuten praktiziert. Prof. Sahm fasste zusammen, dass die rituelle Beschneidung an Mädchen kein religiöses Phänomen sei, sondern offenbar ein traditionelles/sektiererisches. Pater Schuster merkte an, dass Sexualtabus eine wesentliche Rolle bei der Tradition der Beschneidung bei Mädchen spielen können.

Es herrschte Konsens darüber, dass Beschneidungen bei Mädchen nicht akzeptabel seien und dem Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit entgegenstehen. Frau Dr. Tarhir erläuterte, dass sie mit ihren Behandlungen die Folgen von Beschneidungen versuche zu mindern und dass sie andererseits bei schwangeren Frauen eindrücklich darauf hinweise, dass Mädchen nicht beschnitten werden dürfen.

Aus dem Auditorium wurde die Frage gestellt, was dazu führe, dass die Beschneidung von Mädchen von Generation zu Generation immer wieder millionenfach weitergeführt werde, wieso also Mütter, die selbst eine Beschneidung haben erleiden müssen, ihre eigenen Töchter auch wieder beschneiden lassen. Was habe das Ganze für eine gesellschaftliche Funktion, die dazu führe, dass Frauen einander das nach wie vor sich antun? Dr. Tarhir antwortete, dass sie im Rahmen ihrer Doktorarbeit fast 500 Frauen in der Frauenklinik in Khartum befragt habe, in unterschiedlichem Alter, aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten und unterschiedlichen Bildungsschichten. Die Gemeinsamkeit sei, dass alle nur dazugehören wollen. Es sei ein großer gesellschaftlicher Druck, dass die Mutter, auch wenn es ihr das Herz hinsichtlich der Beschneidung ihrer Tochter zerreiße, die Beschneidung zulasse, die Mutter machtlos sei und nichts dagegen unternehmen könne und die Mutter selber habe kulturell nur den halben Wert, wenn sie nur Mädchen auf die Welt gebracht habe und keinen Jungen. Und sie kann nur dazu gehören oder sie hat nur Platz in den Familien in der Gesellschaft, wenn sie die Beschneidung machen lasse. Und nach der Meinung von Mutter und Vater werde nicht gefragt, die Großmutter veranlasse die Beschneidung, die Macht läge bei den Älteren und diese hätten aufgrund des gesellschaftlichen Drucks keine andere Wahl. Von Prof. Sahm wurde die sehr starke Macht der Tradition, weniger vielleicht der Religion, herausgestellt.

Von anderer Seite wurden nochmal auf die große Bedeutung der Tradition (auch der Beschneidung) in unterschiedlichen Kulturen, die letztlich nichts mit der zugehörigen Religion zu tun habe, hingewiesen: es sei der Zwang, dazuzugehören. Es könne durchaus passieren, dass Mädchen aus diesem Kulturkreis, die hier in Deutschland leben, plötzlich Angst haben, in den großen Ferien nach Hause zu fahren.

Von Dr. Simonsohn und Frau Dr. Rafi wurde auf die rituelle Beschneidung (Zirkumzision) bei Jungen bei Juden, um zur jüdischen Gruppe dazuzugehören, eingegangen.

Aus dem Auditorium wurde auf das Spannungsfeld zwischen kultursensiblem Verhalten und Toleranz und andererseits nicht tolerablem Verhalten (wie Beschneidung bei Mädchen oder Vorenthalten von medizinischer Versorgung und von Vorsorgeuntersuchungen für kleine Kinder) hingewiesen.

Prof. Sahm fragte: Was machen wir, wenn die Sinti-/Roma-Frau ihre Mutter vielleicht nicht zur Vorsorgeuntersuchung bringt? Wie soll ein Staat damit umgehen? Wie können wir als Ärztinnen und Ärzte damit umgehen? Wie können wir damit umgehen, wenn es religiöse Gebote gibt, die vielleicht in Einzelfällen in der Klinik oder in der Praxis oder zu Hause schädlich sind? Wie können wir den Clash vielleicht abmildern, wie gehen Sie damit um? Welche Erfahrungen haben Sie damit? Erleben Sie das oder ist es am Ende doch nur ein gradueller Unterschied, den man durch ein bisschen Sprachkenntnisse überwinden kann?

Frau Dr. Rafi antwortete hierauf mit Hinweis auf tagtägliche Konflikte, dass die mitkommenden Ehemänner von Frauen türkischer oder marokkanischer Herkunft unbedingt wollen, dass Frauen von einer Ärztin und nicht von einem Arzt untersucht werden. Hierauf werde Rücksicht genommen.

Aus dem Auditorium wurde hinsichtlich des Stichworts “kultureller Clash“ ein Perspektivwechsel vorgeschlagen: Bisher sei das Thema des Ärztetags “Kultursensible Medizin“ sehr stark auf den Patienten fokussiert worden, welchen kulturellen Hintergrund und welche religiösen Vorstellungen der Patient mitbringe. Wie sähe es denn mit dem kulturellen Hintergrund der Ärzte aus? Gebe es da Unterschiede? Habe ein deutscher Arzt ein anderes Selbstverständnis als ein Arzt aus einem muslimischen Kontext? Dr. Falyh ging auf diese Fragen ein und erläuterte kulturell bedingte Unterschiede zwischen Ärzten im Irak und deutschen Ärzten hier: im Irak werde ein Arzt aus Tradition und auch aus Angst vor den Familien nicht über den Tod sprechen, den Begriff Tod schiebe er weg. Im Irak werde vom Arzt erwartet, dass er heilt. Wenn die Familienangehörigen eines Patienten keine Antwort vom Arzt erhalten, gehen sie zum Mullah, zum Imam oder dem Zauberer. Das sei Tradition, dort werde der Mensch nicht als Individuum, sondern als Teil der Gesellschaft gesehen. Dr. Falyh erläuterte auch, dass er im Rahmen seiner Doktorarbeit ausländische Kinder mit deutschen Kindern verglichen habe hinsichtlich ihres Verhaltens im Krankenhaus: die ausländischen Kinder wollten immer länger im Krankenhaus bleiben als die deutschen, weil sie durch den Krankenhausaufenthalt weg von den als einengend empfundenen Familienverhältnissen mit zum Beispiel strenger Mutter waren. Dr. Falyh erwähnte auch Verständigungsprobleme irakischer Kinder hier in einem deutschen Krankenhaus, wo deren Gesten, Mimik oder Zungeschnalzen von deutschen Pflegekräften nicht verstanden wurden.

Prof. Sahm griff die Frage nach der interkulturellen Kompetenz und dem Spannungsfeld noch mal auf, wenn ein Arzt mit einem anderen kulturellen Hintergrund hier in unserem Lande in einer Klinik arbeite und die Familie eines Patienten aufgeklärt werden möchte, während der kulturelle Hintergrund des Arztes ihm sage, dass er nicht aufklären wolle: wonach müsse er sich richten? Was könne man erwarten?

Prof. Dr. med. Dr. phil. Ilhan Ilkilic von der Universität Istanbul und Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mitglied des Deutschen Ethikrats, antwortete ausführlich: Es gebe in der Medizin zur Frage, ob die ethischen Prinzipien universalisierbar seien, zwei extreme Meinungen, also die eine Position sage Ja und die andere Nein. Er habe in seiner Habilitation einen Mittelweg gewählt. Man nenne die Position, die Ja sagt, die Universalisten, und die andere Position, die Nein sagt, Relativisten. Sein Konzeptansatz heiße in Bezug auf die Fragestellung integrierter, reflektierter Partikularismus. Was bedeute das? In die praktische Tätigkeit des Arztes übersetzt, schlage er vor, dass man, aus der Patientenperspektive kommend, entsprechende ethische Prinzipien konkretisiere. Er habe ein Patientenautonomieverständnis in seiner Sozialisation, in seiner beruflichen Ausbildung, geprägt bekommen. Dem Patienten etwas zu diktieren, halte er für problematisch. Also sollte man von der Patientenperspektive her kommen. Einerseits könne man die kulturellen Phänomene ganz schön berücksichtigen, auf der anderen Seite aber auch, dass bestimmte Menschenrechte oder auch andere sehr zentrale Normen dadurch nicht verletzt werden. Insofern schlage er vor, dass man eher die Patientenperspektive berücksichtige. Wenn der Patient gerne in seinem Familienkreis eine Entscheidung treffen möchte, dann sei dies zu akzeptieren, wo Familienautonomie wirklich eine starke Bedeutung und Funktion habe. Das Problem sei aber in der Praxis, dass wir nicht mit Klarheit wissen können, ob dieser Entscheidungsprozess mit dem Einverstandensein des Patienten stattfinde oder nicht. Das sei das Problem. Und ob da wirklich Patientenautonomie als solche beeinträchtigt werde, sei sehr schwierig zu beurteilen, und das könne nur dadurch vielleicht festgestellt werden, dass man ein sehr gutes Vertrauensverhältnis zum Patienten habe. Dies sei sehr schwierig und koste auch sehr viel Zeit.

Auf Nachfrage von Prof. Sahm ging Prof. Ilkilic darauf ein, dass jede Tradition ihre eigene Dynamik habe: so seien Patientenverfügungen als kulturelle Praxis zu verstehen und zum Beispiel bei weißen Amerikanern viel mehr als bei Schwarzamerikanern verbreitet. Oder: das Bauen eines sehr schönen Seniorenheims in einer türkischen Stadt könne damit einhergehen, dass das Seniorenheim trotzdem keine Bewohner habe, weil Bewohner in einem Seniorenheim zu haben so verstanden werde, dass es ein Verhalten der Kinder gegen die türkische Tradition sei. Modernes Leben mit arbeitenden Kindern und einem dementen Vater zu Hause könne Anstoß sein zu einer selbstreflektierenden und auch selbstkritischen Diskussion innerhalb der Tradition.

Aus dem Auditorium wurde dargelegt, dass es für die Umsetzung der sehr wichtigen interkulturellen Kompetenz in der Praxis sehr viel Zeit bedürfe. Der Prozess, sich an einen Patienten heranzutasten und sich zu fragen und sich selber klarzumachen, will der Patient seine Krebsdiagnose wissen, wie weit will er sie wissen, wieviel kann ihm gesagt werden, das sei auch bei einem deutschen Patienten sehr mühsam. Bei einem nicht-deutschen Patienten benötige dieser Prozess aus all den während der Tagung bereits genannten Gründen nochmal deutlich mehr Zeit. Prof. Sahm fragte, ob die Medizin die Zeitressourcen dafür aufbringen müsse oder ob auch andere gesellschaftliche Bereiche beteiligt seien. Dr. Simonsohn verwies nochmal auf das große Problem der Sprachbarriere und dem damit verbundenen zeitlichen Mehraufwand, der insbesondere in einer niedergelassenen Praxis – anders als vielleicht in einem Krankenhaus – nicht aufgebracht werden könne und ein Mittelweg gegangen werden müsse, sodass Patient und Arzt jeweils einigermaßen zufrieden seien. Er finde es schlecht, dass Medizin unter ökonomischen Bedingungen stattfinde.

Aus dem Auditorium wurde hierauf eingegangen, dass hinsichtlich der sprachlichen Verständigung auch von der ärztlichen Seite aus versucht werden könne, möglichst einfache, unkomplizierte, leicht verständliche Wörter zu verwenden. Interkulturelle Kompetenz und Sensibilisierung hierfür solle bereits in den Krankenpflegeschulen und dem Medizinstudium vermittelt werden.

Die Frage nach der kulturellen Verschiedenheit der Ärzte wurde aus dem Auditorium nochmal aufgegriffen: auch innerhalb der gleichen Kultur gebe es zu manchen Themen, wie zum Beispiel Abtreibung, ganz unterschiedliche Einstellungen. Wir fänden uns also in einer Situation, in der wir sowohl innerhalb unserer hiesigen Gesellschaft als auch innerhalb der Migrantengesellschaft eine Ausdifferenzierung von Kulturen haben und zum Beispiel Patienten am liebsten zu Ärzten ihrer eigenen Nationalität gingen. Wenn jeder auf diesem Weg seinen Arzt finde und der kulturelle Clash damit vermindert würde, wäre es gut; aber es gebe nicht überall für jede Fachrichtung genügend Ärzte für jede Kultur. Frau Dr. Tahir legte dazu dar, dass sie aus dem Sudan komme, ihre Muttersprache Arabisch sei und sie es so weit geschafft habe, dass sie mit afrikanischen und arabischen Patienten, also mit Patienten aus 2 Kontinenten, umgehen und auch das Verständnis aufbringen könne. Nichtsdestotrotz mache es auch ihr große Schwierigkeiten im Hinblick auf verschiedene Dialekte zum Beispiel innerhalb der arabischen Sprache, und manchmal dauere es länger, bis über das Gleiche gesprochen werde. Mittlerweile habe sie sich ihr eigenes Wörterbuch angelegt. Es erleichtere bis zu einem gewissen Punkt, wenn jeder Patient den Rahmen oder den Arzt finde, wo es leichter gehe.

Toleranz sei im medizinischen Bereich sehr wichtig, und wer tolerant sei, könne mit jeder Kultur umgehen, wurde aus dem Auditorium angemerkt.

Auf Nachfrage von Prof. Sahm legte Prof. Ilkilic zum Thema Ökonomisierung des Gesundheitssystems und welchen Stellenwert Interkulturalität in diesen Rationierungsprozessen haben dürfe, dar, dass man sogar interkulturelle Kompetenz aus ökonomischen Gründen befürworten könne, weil bei Menschen mit Migrationshintergrund oft eine Überdiagnostik stattfinde: die Kommunikation funktioniere nicht, man spare 70 € an Dolmetscherkosten, aber dafür gebe man für nicht notwendige Untersuchungen 2000 € aus. D.h., wenn die Kommunikation mit interkultureller Kompetenz und Kommunikationsmöglichkeiten funktionieren würde, hätte man auch Zeit und Geld gespart. Die Realität sehe aber häufig anders aus, die entsprechende Zeit fehle in der Praxis. Als Ethiker würde Prof. Ilkilic aber davor warnen, aufgrund der realen Praxis unsere Ethik oder unser Berufsethos entstehen zu lassen. Vielmehr solle es umgekehrt sein, also in Bezug auf die Ethik und ethische Prinzipien solle die Praxis gestaltet werden. Und zum Zeitbedarf in der interkulturellen Kommunikation: man habe festgestellt, je höher der soziale Status des Patienten sei, desto länger dauere das Gespräch zwischen Arzt und Patient, und am kürzesten dauere das Gespräch zwischen Patient mit Migrationshintergrund und dem Arzt.

Aus dem Auditorium wurde den zahlreichen Antworten auf die Frage, ob es einen grundsätzlichen ethnischen Clash bei den Ärzten gebe, noch eine Antwort hinzugefügt: aus einer Ärztefamilie kommend habe er von Kind an gelernt, dass der Arzt zwar nicht über den gesellschaftlichen Schichten stehe, aber sich zwischen ihnen bewege: zu Ärzten kommen die Bettler genauso wie die Könige. Und letztendlich sei das übertragbar auf die Ethnien. Denn es sei ja letztendlich das Selbstverständnis des Arztes, dass die Leute zu ihm kommen und er ihnen hilft. Und dass wir als Ärzte Ihnen helfen, bedeute – nicht immer, aber am liebsten auch –, dass es ihnen besser geht, wenn sie von uns weggehen. Und dabei spiele es überhaupt keine Rolle, was für eine Religion oder welche Hautfarbe oder welche kulturellen Hintergründe sie haben. Nun sei Theorie und Praxis oft weit auseinander, aber es sei der Wunsch des Arztes und vielleicht auch seine Pflicht, sich auf den Patienten und seine kulturellen Hintergründe einzustellen und damit umzugehen. In der Tat sei es so, dass man das nicht immer könne und dass die Gesundheitsgesetzgebung in Deutschland das offenbar schwierig mache, weil es eben nicht bezahlt werde. Aber wir haben ja nicht nur solche Fälle. Wenn wir diese Fälle haben, müssen wir sie tragen. Und glücklich der Arzt und glücklich der Patient, wenn sie aufeinandertreffen und miteinander umgehen können. Und bezüglich der Sprachbarriere gebe es ja auch die wunderbare nonverbale Kommunikation. Er sei in einem weiten Landstrich der einzige Chirurg, zu ihm kämen alle und manchmal sogar ohne Verwandte, und man müsse auch irgendwie miteinander reden. Das sei bei einem gebrochenen Arm leichter als bei einer infausten Krebsdiagnose. Der Punkt sei, dass – egal wo der Arzt herkomme und egal wo der Patient herkomme – Arzt und Patient sich am besten aufeinander einstellen, miteinander umgehen. Wenn es gut funktioniert, gehe es dem Patienten besser und dem Arzt auch. Prof. Sahm bekräftigte, dass das das sei, wo wir hinwollen.

Und auch Prof. Finke, ebenfalls Chirurg, bekräftigte, dass er genauso denke: wir wollen von dem Pessimismus, der etwas anklang, wegkommen. Wir bewegen uns ja aufeinander zu. „Ärztliches Handeln im interkulturellen Kontext“ haben wir gesagt. Wenn wir das mit „zwischenmenschlich“ ersetzen würden, dann seien wir auf einer neutralen Ebene und bezögen alle anderen Kulturen als Mitmenschen ein. Es seien Patienten, die wir sehen, auf die wir uns zubewegen, wir müssen uns um sie kümmern, das ist selbstverständlich. Er komme aus der gleichen Tradition und sehe das genauso. Umgekehrt könne man es auch von den Patienten erwarten, und viele tun das auch, vielleicht nur auf eine Art, die wir noch nicht ganz so wahrnehmen, die bemühen sich ja auch. Sie bemühen sich aber vielleicht in ihrem Kontext, und um den näher kennenzulernen und auszuloten, bedarf es vieler solcher Gespräche, und wir brauchen einen kulturellen Dolmetscher, nicht einen sprachlichen: das Sprachliche sei nicht das Hauptproblem, sondern das Verständnis für das, was kulturell dahinterstehe. Und er glaube, wenn wir auf dem Weg weitermachen – und dieser Tag sei vielleicht ein Schrittchen in diese Richtung –, dann kommen wir auch irgendwo weiter. Und in einer Region wie dieser hier passiere das ja auch schon laufend und zwar vieltausendfach.

Eine Ärztin aus dem Auditorium bat die aus verschiedenen Kulturkreisen stammenden Podiumsdiskussionsteilnehmer, sich zu der Krankheitsrolle, die jeder Patient in seinem eigenen Kulturkreis einnimmt oder auslebt, zu äußern. Sie selbst merkte an, dass sie während einer kurzen Tätigkeit im Libanon beobachtet habe, dass es dort eine große Schicksalsergebenheit in Krankheitsfällen gebe und diese den Leuten sicher helfe, auch mit schwierigen Situationen umzugehen. Zugleich hätten die Menschen dort aber auch eine große Passivität entwickelt.

Dr. Falyh legte hierzu dar, dass die Gesellschaft im Orient sehr emotional sei, und wenn einer krank sei, dann sei die ganze Familie krank. Und wenn einer sterbe, dann werde mindestens 40 Tage getrauert und die Frauen werden mindestens ein Jahr schwarze Kleider tragen. Obwohl in seiner Praxis 9 Sprachen gesprochen werden, reiche dies für die Vielzahl der bei seinen Patienten vertretenen Nationen nicht aus, und eine nur sprachliche Übersetzung, die nicht den kulturellen Hintergrund berücksichtige, bringen nichts hinsichtlich des Verständnisses des Verhaltens des Patienten auch über die Krankheit oder über den Tod oder über andere Dinge im Hinblick auf seinen kulturellen Hintergrund.

Auch Frau Dr. Tahir betonte, dass es nicht um die Sprachbarriere, sondern um das interkulturelle Verständnis gehe. Der sekundäre Krankheitsgewinn spiele in der Gesellschaft, aus der sie stamme, eine große Rolle, und das erlebe sie auch bei den aus ihrem Kulturkreis stammenden Frauen, die jetzt in ihre Praxis kommen: Mal tue es hier, mal dort weh, nur damit der Ehemann mitkomme und seiner Frau ein bisschen Aufmerksamkeit zeige. Sehr viel werde dabei auf den Unterleib projiziert. Und die höchste Aufmerksamkeit wird einer Schwangerschaft gewidmet. Wenn es ein Junge ist, der sich im Bauch der Mutter entwickelt, dann sei der Mann aufmerksam zu seiner Frau, dann komme er zur Untersuchung mit und kümmere sich und dann bekomme die Frau das, was sie vielleicht ihr Leben lang gar nicht bekommen hat, Aufmerksamkeit.

Frau Dr. Rafi bekräftigte die Ausführungen von Frau Dr. Tahir, dass man als Kranke in orientalischen Ländern, sei es Persien oder Sudan, im Mittelpunkt stehen möchte: man wünsche sich mehr Zuwendung durch die Umgebung und dass die Menschen den Betreffenden begleiten, wenn man eine schwere Diagnose bekommt. Demgegenüber möchten Deutsche meist nicht über ihre Krankheit reden und wollen ihre Diagnose nicht ihren Mitmenschen, manchmal auch nicht ihren Geschwistern, mitteilen. Den Begriff Kismet/Schicksal gebe es vermutlich in jeder Kultur.

Dr. Simonsohn antwortete, dass Juden sehr am Leben hängen, was vielleicht auch historisch bedingt sei, er gehöre zur Nachkriegsgeneration, Krankheit sei schon ein bisschen wie eine Scham, man möchte nicht krank sein, man möchte leben und nicht beeinträchtigt werden durch eine Krankheit. Der Gedanke, dass alle zu Dir stehen, sei sehr stark ausgeprägt, ähnlich wie im Iran, aber als Schicksal nehmen wir Juden eine Krankheit nicht hin.

Prof. Sahm leitete eine Schlussrunde ein: Kultursensibilität habe auch viel mit Verständnis für andere Religionen zu tun, das kulturelle Umfeld hier sei ja ganz anders gestaltet, sodass Religion in Phasen oder an bestimmten Plätzen eher marginalisiert erscheine. In seiner Klinik erlebe er es, dass schwerkranke Menschen aus Golfstaaten kommen und einen Blick in unsere Kapelle werfen, um zu schauen, wer wir sind. Und wenn sie schwer krank sind und nach Hause gehen, dann komme es vor, dass jemand sage, „Doktor, ich bete für Sie“. Ein mitteleuropäischer Patient, ein Frankfurter, ein Offenbacher, würde sich eher die Zunge abbeißen, bevor er sowas sagen würde, und jetzt mache er aber die Erfahrung, dass die vielen Menschen aus dem sogenannten Multikulti-Bereich mit Migrationshintergrund in die Klinik kommen und eigenartigerweise mit ihrer Religion dann doch sehr zurückhaltend umgehen. Verlernen die das? Lernen die, in der säkularen Umwelt dies nicht mehr zu zeigen, die Rituale nicht mehr zu leben?

Dr. Simonsohn antwortete, dass sich eigentlich wenige Ärzte mit dem Problem überhaupt auseinandersetzen und das Thema Ethik in der Medizin leider heute, auch schon früher, eigentlich kaum eine Rolle spiele. Er habe einen Chef gehabt, bei dem es eine Rolle spielte. Heute werde es im Krankenhaus relativ vergessen: man habe es mit einem Patienten zu tun, aber man müsse diesen Patienten möglichst so schnell behandeln, dass das Krankenhaus davon einen Benefit hat. Unter diesem Druck stehen die Ärzte sowohl im Krankenhaus als auch in der Praxis. Das mache ihn sehr traurig, dass wir das wichtigste, dem Patienten zuzuhören, was früher im Mittelpunkt stand, heute in der Klinik oder in der Praxis so nicht machen können. Und er weise nochmal darauf hin, Kommunikation sei das Wichtigste, was es heute gebe und da wäre er froh, wenn sich Strukturen entwickeln, die diese Kommunikation zwischen den Menschen stärken würden.

Prof. Sahm fragte Frau Dr. Rafi, ob wir das Zeigen von Ritualen und Kulturen und religiösen Überzeugungen verlernen oder verbergen. Frau Dr. Rafi verneinte dies und betonte nochmals, dass sie sich für ihre Patienten viel Zeit nehme und – wenn kulturelle Hintergründe sehr wichtig seien – versuche, sich dem jeweiligen Kulturkreis anzupassen, zu kommunizieren und Mitleid zu zeigen. Sie frage ihre Patienten, ob der Rabbi, der Imam oder der Pfarrer kommen solle.

Prof. Sahm fragte Frau Dr. Tahir, ob die Frauen, viele aus Ostafrika, die zu ihr kommen, ihre religiösen Bedürfnisse zeigen und ihr gegenüber benennen, wer sie seelsorgerisch betreuen solle. Frau Dr. Tahir antwortete, dass in der Klinik eine Kapelle vorhanden sei, bei Sterbenden werde bei entsprechendem Wunsch im Hintergrund eine CD mit Koranversen gespielt. Frau Dr. Tahir schilderte auch ein Gebet auf Wunsch einer Patientin.

Dr. Falyh legte dar, dass man aus dem arabischen/orientalischen Raum hier verschiedene Gruppen treffe, die integriert seien, die jetzt säkularistisch seien und bei denen die Religion keine Rolle spiele. Je älter die Betreffenden werden, nahe am Tod, erinnern sie sich an ihren Gott, aber vorher nicht. Wenn sie krank werden, fahren sie plötzlich nach Mekka. Die, die aus dem arabischen/orientalischen Raum aktuell kommen, seien noch an die Religion gebunden. Allgemein glaube er, dass wir zueinander eine Toleranz finden sollten. Schopenhauer sei gefragt worden, was eigentlich Toleranz sei. Da habe Schopenhauer das Beispiel mit den zwei Stacheltieren in einem kalten Raum genannt: wenn sie näher aneinander kamen, haben sie sich gestochen, wenn sie weit auseinander waren, sei es ihnen kalt geworden, bis sie die Grenze gefunden haben, dass sie sich nicht gegenseitig stechen, aber voneinander Wärme bekommen. Das sei Toleranz.

Prof. Sahm sah hierin fast ein Schlusswort. Die Medizin sei ein Spiegel der Gesellschaft. Das hätten wir heute gehört. Und wir könnten sagen: sag mir, welche Medizin Du betreibst als Gesellschaft, und ich sage Dir, wer Du bist. Wir haben heute an uns gearbeitet: Sie, die Sie gekommen sind, mit uns diskutiert haben, zugehört haben, die Referenten, die wir heute gehört haben, die Diskutanten auf dem Podium und natürlich das Vorbereitungsteam hier vom Haus am Dom, Prof. Finke, Frau Dr. Suharjanto, denen wir alle herzlichen Dank sagen. Prof. Sahm dankte allen Anwesenden für ihr Kommen.

Prof. Finke dankte den Anwesenden und wies auf den nächsten Ärztetag am Dom in einem Jahr zu einem anderen medizinethischen Thema hin.


Literatur

1.
Knipper M, Bilgin Y. Migration und Gesundheit. Sankt Augustin, Berlin: Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.; 2009. ISBN 978-3-940955-55-5. Online verfügbar unter: http://www.kas.de/wf/doc/kas_16451-544-1-30.pdf External link