gms | German Medical Science

GMDS 2015: 60. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e. V. (GMDS)

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie

06.09. - 09.09.2015, Krefeld

Brauchen wir eine mHealth Ethik?

Meeting Abstract

Search Medline for

  • Urs-Vito Albrecht - Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Deutschland
  • Heiner Fangerau - Uniklinik Köln, Köln, Deutschland

GMDS 2015. 60. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (GMDS). Krefeld, 06.-09.09.2015. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2015. DocAbstr. 174

doi: 10.3205/15gmds046, urn:nbn:de:0183-15gmds0467

Published: August 27, 2015

© 2015 Albrecht et al.
This is an Open Access article distributed under the terms of the Creative Commons Attribution 4.0 License. See license information at http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Outline

Text

Einleitung: Die Verschmelzung der Informations- und Kommunikationstechnologie mit der Computertechnik bringt immer schneller neue technologische Werkzeuge hervor, die sich multifunktionell und vielseitig in unseren Alltag integrieren lassen. Sogenannte “Smartphones” und “Smart Watches” stehen exemplarisch für solche Smart Devices, die trotz beeindruckender Funktionalität mit leistungsfähiger Sensorik, vielfältigen Kommunikations- und umfangreichen Speichermöglichkeiten unauffällig ihren Dienst versehen. Längst im privaten Bereich akzeptiert, haben diese Geräte den Weg ins professionelle, auch medizinische Umfeld gefunden. Politik und Wirtschaft sprechen ihnen hier ein enormes Potenzial zu. Sie werden auch als medizinische Präventionstechnologie der Zukunft gehandelt und sollen Einsatz in unterschiedlichen Bereichen finden [1]. Mit dem Einsatz im hochsensiblen persönlichen Bereich im Grenzfeld von Krankheitsvorsorge und Gesundheitsfürsorge ergeben sich ethische Fragen, die aufgrund der vielfältigen Einsatzmöglichkeiten an verschiedene medizinethische Debatten [2] anschließen. Die Auseinandersetzung um smarte Weglaufsysteme für Patienten mit einer beginnenden Demenz oder die Frage nach dem Maß der Ernährungskontrolle, der sich Diabetespatienten aussetzen wollen, geht über Fragen der Telemedizin [3] hinaus und zeigt beispielsweise den Bedarf an einer ethischen Diskussion im mHealth-Bereich nicht erst nach Entwicklung einer Technologie sondern bereits im Entstehungsprozess.

Diese Ausarbeitung soll es daher einen ersten Beitrag zur Debatte um eine mHealth-Ethik liefern und den Diskurs vorantreiben. Nach der Abgrenzung der Anwendungsfelder von mHealth werden inzwischen “klassische” medizinethische Prinzipien, die in einer Reihe medizinethischer Normenkataloge bereits Anwendung gefunden haben, auf das Aufgabenspektrum von “mHealth” bezogen. Anschließend wird ein Entwurf für eine normative Grundlage vorgestellt, deren schlussendliches Ziel es ist, gemeinsam mit anderen in diesem Bereich Tätigen (z.B. Interessenverbänden/Gremien) eine Ethik zu entwickeln, die das gesamte mHealth-Spektrum umfasst.

Der so entwickelte Katalog von spezifisch auf “mHealth”-Systeme bezogenen medizinethischen Richtschnüren soll im Sinne einer orientierenden Leitlinie idealer Weise allen beteiligten Akteuren eines mHealth-Projekt, vor, während und nach der Implementierung als Werkzeug zur moralischen Evaluation ihres Vorhabens dienen und dabei helfen, ethisch begründete Entscheidungen über die Einrichtung oder Begrenzung besonderer Anwendungen zu treffen.

Material und Methoden: Nach der Definition der WHO aus dem Jahr 2011 handelt es sich bei mHealth um eine durch Mobilgeräte im Sinne von Mobiltelefonen, Smartphones, Tablet-PC und deren drahtlos angebundenes Zubehör unterstützte öffentliche Gesundheitsfürsorge [4], Aufgrund der rasch fortschreitenden Entwicklungen lassen sich Anwendungsfelder inzwischen über diese Definition hinaus in diesem Bereich der Bereitstellung von Gesundheitsinformation, der Gesundheitsförderung, Versorgung und biomedizinischen Forschung erweitern. Der professionelle Zugang zu Gesundheit und Medizin ist von jedem Ort aus zu jeder Zeit möglich und nicht mehr an spezielle Lokalitäten gebunden.

Die vorgenannte Erweiterung der Einsatzbereiche von “mHealth”-Systemen von der privaten Nutzung im häuslichen Bereich, über das Telemonitoring von Gesundheits- und Krankheitsparametern bis hin zur Erfassung und Sammlung von epidemiologischen und biologischen Daten zu Forschungszwecken umfasst verschiedene Ebenen der bestehenden medizinethischen Diskussion. Hierzu sind bestehende biomedizinische Grundprinzipien bzw. Kodizes zu prüfen. Handelt es sich bei der mHealth-Maßnahme um den Einsatz von Geräten zum Erheben von physiologischen Parametern im Sinne des Monitorings oder der Diagnostik, sind eher Fragen der ärztlichen Professionsethik und des Arzt-Patientenverhältnisses berührt. Werden Daten zu Forschungszwecken erhoben, wird das große Feld der Forschungsethik betreten. Quer zu speziellen Fragen, die sich aus der jeweiligen Zielorientierung medizinischen Handelns ergeben (Patientenversorgung vs. Forschung) stehen grundsätzliche Prinzipien der Medizinethik (die natürlich auch diese beiden Bereiche dominieren). Hier ist vor allem das so genannte “Georgetown-Mantra” mit den Aspekten Autonomie, Wohltun, Nicht-Schaden und Gerechtigkeit zu bedenken. Ferner ist zu prüfen, ob und inwieweit bereits existierende ethische Kodizes aus dem Umfeld der Technikfolgenabschätzung, der Öffentlichen Gesundheit/Public Health [5], der Forschung [6] und der involvierten Fachdisziplinen (Medizinische Informatik [7]) das mHealth-Spektrum umfassen. Der im Folgenden als Basis für weitere Diskussionen vorgestellte Kodex wurde aufgrund einer Analyse diverser existierender Kodizes (u.a. [5], [6], [7], [8], [9]) und sowie einer qualitativen Studie zur ethischen Bewertung von Altersgerechten Assistenzsystemen durch Anwender und Hersteller [10] von den Autoren zusammengestellt.

Ergebnisse: Mögliche Dimensionen des mHealth Kodex

Autonomie

  • Berücksichtigung des Selbstbestimmungsrechts im Kontext von Beteiligung, Mitgestaltung, Nutzung oder Anwendung von mHealth.
  • Schutz der informationellen Selbstbestimmung
  • Freiwilligkeit und jederzeitige Rücktrittsmöglichkeit.
  • Eine umfassende, zielgruppen- und situationsgerechte Aufklärung, als Grundlage für eine begründete Entscheidung.
  • Förderung der Gesundheitskompetenz zum Treffen gesundheitsrelevanter (selbst-)bewusster Entscheidungen.

Wohltun

  • Primärer Nutzen für die Betroffenen muss sich erwarten/ableiten lassen.
  • Begründete Zielerreichung auf dem Boden valider Daten.
  • Transparente Entscheidungsprozesse unter Beteiligung sämtlicher Akteure (Betroffener) zur nachvollziehbaren Begründung einer Maßnahme.

Nicht-Schaden

  • Die mHealth-Maßnahme darf in keiner Beziehung dem Anwender und Empfänger, individuell, einer Gruppe oder dem Umfeld, einen körperlichen oder psychischen Schaden zufügen.
  • Risiken müssen in einem angemessenem Verhältnis zum erwarteten Nutzen der Maßnahme stehen, was eine Risiko-Nutzen-Abwägung unter Zuhilfenahme valider und reliabler Information bedingt.
  • Das Recht auf Privatsphäre, was neben der Vertraulichkeit auch den Schutz der persönlichen Integrität umfasst, muss geschützt werden, um Schaden abzuwenden.

Gerechtigkeit

  • mHealth-Maßnahmen sollen neutral gegenüber dem sozialem Status, Einkommen, Bildungszugehörigkeit, politischer Einstellung, Religionszugehörigkeit, Neigungen und Vorstellungen, Geschlecht, Alter, Ethnie aber auch Technikaffinität, Gesundheitskompetenz, bestehenden geistigen und körperlichen Einschränkungen jedem zugänglich sein. Eine Diskriminierung und Stigmatisierung darf aus einer mHealth-Maßnahme nicht erwachsen.
  • Die mHealth-Maßnahme soll die Beseitigung von bestehender Ungleichheit in den Gesundheitschancen zum Ziel haben, was eine gerechte Verteilung von gesundheitlichen Nutzen- und Schadenspotentialen innerhalb der Zielgruppe voraussetzt.

Gute Wissenschaftliche Praxis

  • Die Forschung zur Generierung valider und reliabler Daten ist notwendig, wobei die biomedizinischen Forschungsprinzipien und Kriterien der Guten Wissenschaftlichen Praxis einzuhalten sind.

Diskussion: Der vorgestellte Entwurf ist als ein Amalgam verschiedener Kodizes zu verstehen. Beispielsweise wurde der IMIA Code of Ethics for Health Information Professionals [7] als eine ideale Basis für die hier vorgestellte Entwicklung identifiziert. Allerdings sind hier für den Bereich mHealth wichtige spezifische Bereiche unberücksichtigt, die durch andere Kodizes adressiert werden und ebenfalls in den Entwurf einflossen. Vor dem Hintergrund des rapiden technischen Fortschritts werden weitere, bislang noch nicht abschätzbare Aspekte berücksichtigt werden müssen. Basierend auf den von Beauchaump und Childress [8] als wesentlich identifizierten medizinethischen Prinzipien mittlerer Reichweite sollte sich in kontinuierlicher Zusammenarbeit mit anderen in diesem Bereich Tätigen eine adäquate mHealth Leitlinie entwickeln lassen, die den jeweils aktuellen Stand der Technik berücksichtigt. Normkonflikte werden zwar nicht ausbleiben, doch können unserer Ansicht nach die vorgestellten Forderungen und prinzipiellen Aussagen eine ethische Richtschnur für verantwortungsvolles Entwicklungs- und Anwendungshandeln im Bereich der “mHealth”-Systeme bieten.


Literatur

1.
Fangerau H, Martin M. Blutdruck messen: Die 'Technikalisierung' der Kreislaufdiagnostik. In: Technomuseum, Hrsg. Herzblut. Geschichte und Zukunft der Medizintechnik. Darmstadt: Theiss/WBG; 2014. S. 74-93.
2.
Albrecht UV, Pramann O. Ethical and Legal Implications on Apps in Clinical Trials. Biomed Tech. 2014; 59 (s1): 674-675.
3.
Iserson KV. Telemedicine: a proposal for an ethical code. Camb Q Healthc Ethics. 2000;9:404–6.
4.
World Health Organization. mHealth – New horizons for health through mobile technologies. Global Observatory for eHealth series – Volume 3. S. 6.
5.
Public Health Leadership Society. Principles of the Ethical Practice of Public Health. 2002. http://phls.org/CMSuploads/Principles-of-the-Ethical-Practice-of-PH-Version-2.2-68496.pdf External link
6.
World Medical Association. World Medical Association Declaration of Helsinki. Ethical Principles for Medical Research Involving Human Subjects. JAMA. 2013;310(20):2191-2194. DOI: 10.1001/jama.2013.281053 External link
7.
International Medical Informatics Association. IMIA Code of Ethics for Health Information Professionals. 31.01.2011. http://www.imia-medinfo.org/new2/node/39 [Letzter Abruf: 13.06.2015]. External link
8.
Beauchamp, Childress. Principles Biomedical Ethics. 6. Auflage. Oxford University Press; 2009.
9.
International Medical Informatics Association. IMIA Code of Ethics for Health Information Professionals. http://www.imia-medinfo.org/new2/node/39. External link
10.
Manzeschke A, Weber K, Rother E, Fangerau H. Ergebnisse der Studie “Ethische Fragen im Bereich Altersgerechter Assistenzsysteme”. Ludwigsfelde: Thiel Gruppe; 2013. http://www.mtidw.de/grundsatzfragen/begleitforschung/dokumente/ethische-fragen-im-bereich-altersgerechter-assistenzsysteme-1 [Letzter Abruf: 13.06.2015]. External link